von Peter Wippermann, Jörg Jelden
1. Change or Die! – Das Marketing muss sich veränderten Bedingungen anpassen
Marketing ist eine Erfindung der Industrieökonomie des 20. Jahrhunderts. Wie die Industrieökonomie verfolgte auch das Marketing eine Top-down-Strategie: Eine Kampagne wurde von wenigen an der Spitze geschmiedet und hatte immer das Ziel, die Massen zum Kauf der eigenen Marke zu bewegen. Dafür waren die damals aufkommenden Massenmedien bestens geeignet. Dieser Manipulationsgedanke hat Generationen von Marketern fasziniert. Aber das Industriezeitalter ist unwiderruflich vorbei. Inzwischen nutzt mehr als die Hälfte der deutschen Bevölkerung das Internet. Wir sind damit endgültig in der Netzwerkökonomie angekommen. Moderne Medien sind interaktiv und auf persönliche Bedürfnisse abgestimmt. Das Marketing büßt erheblich an Gestaltungsmacht ein. Plötzlich wird all sein Tun kommentiert, kritisch hinterfragt oder durch den Kakao gezogen. Die Kunden haben einen wachsenden Einfluss auf die Markenpersönlichkeit und gestalten sie aktiv mit – nicht selten zum Missfallen der verantwortlichen Marketer. Kundenorientierung gehört zwar zum Mantra des heutigen Marketings, aber zukünftig müssen sich die Marketer noch viel stärker auf den offenen Dialog mit ihren Kunden einstellen und in Echtzeit die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Konsumenten befriedigen.
Darüber hinaus gibt es aber noch einen weiteren Grund, der an den Grundfesten des Marketings rüttelt. Unternehmen sind heute bestimmt vom Shareholder-Value-Gedanken. Sie müssen wachsen, um die Renditeerwartungen ihrer Anteilseigner zu erfüllen. Angesichts des globalen Wettbewerbs und der steigenden Konkurrenz von Billiganbietern aus Fernost setzen Unternehmen auf Innovationen, die ihnen einen kurzfristigen technologischen Wissensvorsprung garantieren und damit organisches Wachstum versprechen. Aber die Innovationszyklen werden kürzer, immer mehr neue Produkte floppen und die Erwartungen der Unternehmen an ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen steigen. In der August-Ausgabe des „Harvard Business Manager“ wird die Innovationsstrategie von Procter & Gamble porträtiert. Für ein Unternehmen wie Procter & Gamble ist es inzwischen unmöglich, sämtliche Innovationen alleine zu stemmen. In-House-Lösungen sind nicht mehr profitabel. Procter & Gamble setzt daher auf Netzwerklösungen und einen offenen Dialog aller Beteiligten, inklusive der Konsumenten.
Ein dritter entscheidender Grund liegt in der demografischen Entwicklung. Die Überalterung der Gesellschaft hat dramatische Konsequenzen für das Marketing, das sich klassischerweise nur mit jungen Zielgruppen zwischen 14 und 49 Jahren beschäftigt hat. Aber die klassischen Zielgruppen schrumpfen. Die Babyboomer-Generation im Alter von 50 plus wird in 15-20 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Außerdem haben die Älteren das Geld und sind bereit, es auszugeben. Das Besondere an den Älteren: Sie wollen so bleiben, wie sie waren. Sie hängen an ihrer Jugend und sind Neuerungen gegenüber nur sehr begrenzt aufgeschlossen.
Das Marketing steht daher vor der Herausforderung, sich einerseits zu öffnen, den Dialog mit den Konsumenten zu suchen, effizienteres Wachstum über Innovationen zu generieren und andererseits Angebote für eine überalternde Gesellschaft zu machen.
2. Brands as Friends? – Die wachsende Sehnsucht nach Freundschaft bietet gute Perspektiven für Marketing-Innovationen
Marken beginnen erst zögerlich, sich zu öffnen. So gibt es zwar ein wachsendes Interesse, sich der Macht der Mundpropaganda zu bedienen und in den persönlichen Netzwerken der Kunden zu werben. Aber noch immer dominiert der alte Gedanke des Manipulierens und Zielens auf Kunden. Marken sollten sich zukünftig viel stärker als Freunde ihrer Kunden begreifen. Diese neue Perspektive liefert die passenden Antworten auf die wichtigsten Herausforderungen. Denn Freunden hört man auch in Zeiten des medialen Dauerfeuers zu. Freunde bringen sich gegenseitig weiter, denn sie reden offen miteinander, ohne sich gegenseitig etwas vorzuschreiben. Und Freunden vertraut man.
Gute Freunde sind das Wichtigste in unserem Leben. Laut AWA 2006 sind gute Freunde wichtiger als Familie, Unabhängigkeit oder auch Spaß. Wer gute Freunde hat, wird zudem älter, wie australische Forscher herausfanden. Denn ein enges soziales Netz gibt Halt und schont damit Herz und Nerven. Die Kritik und Anregungen von Freunden tragen wesentlich dazu bei, dass wir uns weiterentwickeln und offen und flexibel bleiben.
Aber in der heutigen Mediengesellschaft sieht die Realität häufig anders aus: Freundschaften werden zunehmend über Medien gelebt und gepflegt. Und so sind Freunde heute immer öfter „Friends“ oder „Kontakte“, wie die Freunde in sozialen Netzwerken wie Myspace oder OpenBC genannt werden. Freundschaft definieren wir in wachsendem Maße quantitativ. „Ich kenne fast doppelt so viele Leute wie vor fünf Jahren, aber habe kaum noch jemanden, mit dem ich richtig reden kann.“ Solche Statements, wie das von Pascal, 29 Jahre, in einem Konsumenteninterview von Trendbüro, sprechen vielen Menschen aus der Seele. In ihnen drückt sich die Sehnsucht nach echter, richtiger Freundschaft aus. Wer kennt nicht das Gefühl, dass man sich dringend mal wieder bei dem besten Freund bzw. der besten Freundin melden müsste. Allzu oft dominieren Verben wie „hätte“ oder „müsste“, ohne dass diesem Gedanken Taten folgen. Den Niedergang der Freundschaften macht eine aktuelle Studie deutlich. US-Amerikaner haben heute ein Drittel weniger gute Freunde als noch vor zwei Jahrzehnten.
Die Leistungsgesellschaft fordert uns vollkommen. Da fehlt es an Zeit und Kraft für echte Freundschaftspflege. Anstatt sich gegenseitig mit den Problemen und Herausforderungen zu beschäftigen und weiterzubringen, hat Freundschaft viel mehr Erlebnischarakter. Spaß und die gemeinsam geteilte Zeit stehen im Vordergrund. Viele Freundschaften verkommen langsam zu Bekanntschaften, ohne dass neue echte Freunde dazustoßen. Was heute zählt, ist die Größe des Bekanntenkreises bzw. Netzwerkes. Dieses sog. Networking ist die Nachbarschaftspflege der Mediengesellschaft. Positive Folge solch großer Netzwerke ist ein steigender „Vitamin-B-Haushalt“ jedes Einzelnen und damit ein einfacher Zugang zu Informationen und Möglichkeiten. Die Netzwerke sollen die wachsenden Unsicherheiten im Beruf und Privatleben kompensieren. Laut einer aktuellen Studie von Trendbüro brauchen Männer zwischen 20 und 39 Jahren vor allem ein gut funktionierendes Netzwerk an Kontakten für ihren beruflichen Erfolg.
Mit der Verflachung von Freundschaften beginnen wir uns nach dem zu sehnen, was wahre Freundschaft ausmacht: Authentizität, Unterstützung, Uneigennützigkeit, Vertrauen und gemeinsame Erlebnisse zu teilen. Für Marken bieten sich große Chancen, wenn sie gemeinsam mit ihren Konsumenten diese vernachlässigten Themen wieder mit Leben füllen.
3. Wahre Freundschaft! – Die Konsequenzen des Konzepts der Marke als Freund für Marketing-Innovationen
Marken, die mit ihren Kunden befreundet sein wollen, müssen in Freundschaft investieren und nach neuen Regeln agieren. Die wichtigsten Ansatzpunkte dieses Beziehungsmarketings sind:
Offenheit: Freunde befinden sich untereinander auf gleicher Augenhöhe. Nur so ist eine offene Kommunikation miteinander möglich. Das gilt auch für Marken und Konsumenten. Marken sollten den gesamten Prozess von der Innovation bis zum Vertrieb öffnen und transparenter machen. Darüber bringen sie sich näher an den Kunden und räumen den zukünftigen Nutzern ein Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer zukünftigen Angebote ein. Der Vorteil für Marken: Je stärker Kunden involviert sind, desto stärker identifizieren sie sich mit ihr. Im Idealfall werben diese sogar gezielt für „ihre“ Marke.
Authentizität: Gute Freunde nehmen sich so, wie sie sind. Sie kennen sich so gut, dass sie sich nicht mehr verstellen oder anbiedern müssen. Für das Marketing bedeutet dies, dass die Zufriedenheit stärker im Fokus des Markenerlebnisses stehen sollte. Anstatt großer abgehobener Imagekampagnen müssen diese Images in der Realität erlebbar und erfahrbar sein. Für den Bereich der Markenkommunikation hat Dove mit der „Initiative für wahre Schönheit“ in den vergangenen Jahren wichtige Akzente gesetzt.
Vertrauen: Gute Freunde können sich aufeinander verlassen. Zwischen ihnen gibt es ein Grundvertrauen. Wer vertraut, muss nicht alles immer hinterfragen und kann sich schneller orientieren. Vertrauen ist ein wichtiges Entscheidungskriterium für Marken. Vertrauen hat jedoch sehr viele Aspekte. Es geht z. B. darum, dass Unternehmen einen verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Umwelt pflegen. Das beinhaltet u. a. lokale Verbundenheit, humane Arbeitslöhne, ökologisch korrekte Produkte. Das alles ist kein reiner Selbstzweck, sondern dient vor allem der Vermeidung negativer Schlagzeilen. Der Bekleidungshersteller und -händler American Apparel hat in den vergangenen Jahren eindrucksvoll vorgemacht, wie man sich das Vertrauen der Konsumenten sichert.
Gemeinsamkeit: Freundschaft hat viel mit Gemeinsamkeiten zu tun, aber auch mit Abgrenzung. Freunde sucht man sich aus. Nicht nur Kunden wählen Marken. Marken legen ebenfalls in wachsendem Maße fest, welche Kunden zu ihrer Marke passen. Momentan gilt das vor allem für den Bereich der Luxus-Fashion-Brands. Überliefert ist eine Reaktion von Tom Ford zu Gucci-Zeiten. Als er herausfand, dass Victoria Beckham seine Kollektionen kauft und trägt, greift er sich an den Hals und röchelt: „Haltet sie sofort davon ab!“ Von Testimonials versprechen sich Marken einen positiven Imagetransfer. Umgekehrt fürchten sie um ihr Image und ihre Identität, wenn sie von „uncoolen“ Sternchen und B-Prominenz goutiert werden. Beliebtes Beispiel hierfür sind z. B. die Spielerfrauen der Fußballstars und die Neureichen HipHopper für die Luxusmarken.
Erlebnisse: Freundschaft wird in jedem Moment neu erfunden. Gemeinsame Erlebnisse sind dafür unerlässlich. Marken müssen noch stärker gemeinsame Erlebnisse schaffen, die den Markenwelten Identität einhauchen. Vorzeigebeispiel sind hier die Apple-Flagshipstores in New York City oder London.
– erscheint im Frühjahr 2007: “Innovation driven Marketing – wie Unternehmen relevante Trends im Marketing erfassen und intern stark machen”, Gabler:
Thexis Fachbuch Marketing 1 / 2007