„Freizeit, Arbeit, Unternehmen – Unternehmen müssen sich entscheiden, wie sie auf die wachsende mediale Macht von Kunden reagieren“

Eigentlich ist alles ganz einfach. Wir entscheiden über Medien, diese bestimmen unseren Alltag. Wer ein iPhone nutzt, hat die meisten Sexpartner. So einfach kann das Leben sein. Mit 12 Paarungen liegen die Liebenden mit einem Apple iPhone statistisch gesehen vor Blackberry (8) und Android (6), das belegt eine aktuelle Studie der amerikanischen Partnervermittlung OKCupid. Fast unbemerkt hat sich unser Leben durch die Präsenz von Personal Media, das mobile Internet, verändert. Nicht nur in den USA. Nicht nur im Privaten.

Heute hat jedes fünfte Kind in Deutschland zwischen fünf und neun Jahren ein eigenes Handy, 2005 hatte nur jedes 16. Kind ein Mobiltelefon. Auf 82 Millionen Einwohner kommen 100 Millionen aktive Handys. Das mobile Internet wird schon in gut einem Jahr von zehn Prozent der Bundesbürger genutzt werden, so die Otto Group Studie von Google, TNS und Trendbüro. Wir leben bereits in zwei Wirklichkeiten. Fernanwesenheit ist uns längst vertraut. Aktuell aber findet ein Wertewandel statt. Menschen, Unternehmen und die Gesellschaft sollten sich Gedanken machen, wie sie in der medialen Netzwerkgesellschaft zukünftig leben und arbeiten wollen. Die Hauptaufgabe wird es sein, die eigene Zeit lustvoll und zugleich ökonomisch erfolgreich zu nutzen.

Unternehmen im Aufwachraum: ratlos

Neue Technologien und Social Media haben es möglich gemacht, dass einzelne unzufriedene Kunden einen globalen Medienfeldzug gegen ein Unternehmen führen können. Unternehmen und ihre Marken erleiden einen nachhaltigen Schaden, wenn sie nicht in Echtzeit reagieren können.

Die Greenpeace-Kitkat-Kampagne gegen Nestlé ist noch gut in Erinnerung. Für das Unternehmen war die interne Kontrolle über abgestimmte Verlautbarungen wichtiger als eine schnelle Gesprächsbereitschaft. Dadurch gewann die Greenpeace-Kampagne viel Zeit. Ihre Meinungsmacht über Twitter, Facebook und YouTube vervielfältigte sich mit jeder Sekunde, und das global. Spät hat Nestlé reagiert. Die Zeit, die zur internen Meinungsbildung benötigt wurde, entsprach nicht mehr der Aufmerksamkeitsökonomie der Netzwerkgesellschaft. Zu spät war das Unternehmen bereit, zu versprechen, den Regenwald zu schützen.

In den meisten Firmen gibt es noch kulturelle Widerstände, die eigenen Mitarbeiter technologisch so auszurüsten, dass sie unter den neuen Medienbedingungen effizient arbeiten können. Persönliche Soft- und Hardware für digitale Netzwerkmedien sind häufig nur dem Management zugänglich. Im Zweifelsfall sitzen die Bremser für die Integration von Personal Media in den IT-Abteilungen und setzen auf Sicherheit statt auf Vertrauen. Es gilt aber, Abschied zu nehmen von alten Vorschriften und Verboten.

Das Abliefern von privaten Smartphones beim Betreten des Unternehmens ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber den eigenen Mitarbeitern. Das Verbot, Social Media während der Arbeitszeit zu nutzen, verkennt die Integration von Arbeits- und Freizeit. Märkte sind Gespräche, und diese finden heute vor allem in den Dialogen von Social-Media-Angeboten statt. Ihr Einfluss wächst täglich. Allein Facebook hatte im Juli des Jahres 500 Millionen aktive Nutzer. Zum Jahreswechsel 2010/11 werden nach einer Prognose des Unternehmens mehr als eine Milliarde User auf Facebook sich selbst vermarkten, Kontakte knüpfen und Meinungen bilden. Bereits jetzt ignorieren 66 Prozent der unter 30-jährigen Mitarbeiter in Deutschland die firmeninterne Datensicherheit, um auf Facebook & Co während der Arbeitszeit kommunikationsfähig zu bleiben.

Jeder im Management weiß, dass die Zeit und nicht der Ort in einer globalen Wirtschaft zum wirklichen Wettbewerbsfaktor geworden ist. Erreichbarkeit und nicht Anwesenheit zählt. Schnelligkeit und nicht mehr die Nähe entscheidet zunehmend über den Erfolg. In den Führungsetagen der Unternehmen ist das Modell der Arbeitskultur von morgen heute schon selbstverständlich: in Hierarchien leben, vernetzt denken und im Rahmen der vereinbarten Unternehmensziele eigenverantwortlich schnell handeln.

Informationsgier kontra Zeit: Flow.Control.

Wenn 48 Prozent der Amerikaner nachts ihren Facebook- oder Twitter-Account kontrollieren, wird klar, wie wichtig das Zusammenspiel von Information und Zeit geworden ist. Die Lust, angeschlossen zu bleiben, verbündet sich mit der Angst, ausgeschlossen zu werden. Es entsteht eine Gier nach Informationen, und diese erzeugt Stress. Nicht umsonst hat der Blackberry den Spitznamen „Crackberry“ bekommen. Permanente Kommunikation macht süchtig. In Deutschland schlagen die Krankenkassen schon Alarm. Die psychischen Krankheiten nehmen überproportional zu. Als einer der Auslöser wird der multimediale Stress am Arbeitsplatz und das Stand-by-Leben angesehen.

Die romantische deutsche Antwort auf das Thema „Information-Overload“ heißt Verzicht. Vogel Strauß hätte keine bessere Lösung des Problems anbieten können. Die Bestseller „Brief an mein Leben“ von Miriam Meckel zum Thema Burn-out, „Ich bin dann mal offline“ von Christoph Koch oder gleich „Mein halbes Jahr offline“ von Alex Rühle sind nicht zufällig so erfolgreich geworden. Sie sind Zeichen für eine gewaltige tektonische Verschiebung, die gerade unter unseren Füßen stattfindet. Die meisten aber spüren sie nicht einmal, noch nicht.

Aktive plus passive Medien: Informationslogistik

Die Revolutionen unseres Alltags kommen nicht mehr wie noch bis in das 20. Jahrhundert als angsteinflößende Ungeheuer daher wie Bahn, Auto und Flugzeug. Stattdessen erscheinen sie als freundliche Helfer und modische Trends, so der Philosoph Burkhard Spinnen. Trotzdem geht es bei diesem Strukturwandel um Macht. Nach der Eroberung von Land, See, Luft und Weltraum entscheidet zukünftig die Herrschaft über die Zeit. Die digitalen Netzwerkmedien und die sich daraus entwickelnde globale Informationsflut bewertet den Faktor Zeit neu. Das Informationsvolumen explodiert mit der Logik der Internetzeit. Ein Menschentag aber hat immer noch 24 Stunden. Aus „just in time“, der analogen Industriekultur, wird die „real time“ der digitalen Netzwerkökonomie. Der Augenblick zählt.

Die Zukunft liegt nicht in der Rückkehr zu den Lösungen der Vergangenheit. Eine ausgewogene Work-Life-Balance war schon immer ein unrealistisches Ziel. Die Sehnsucht, weniger zu arbeiten, hat sich nie erfüllt. Die Integration von Arbeit in das eigene Leben verspricht weniger Stress und steigert die Produktivität. Es ist sinnvoller, den Tag um die aktuelle Arbeit herum zu organisieren, als zu versuchen, die ideale Vorstellung des eigenen Tagesablaufs zu realisieren. Entschleunigung bringt nicht die erhoffte Lösung. Wir werden nicht darum herumkommen, unsere eigene Informationslogistik zu organisieren. Passive Medien wie E-Mail gilt es mit der aktiven Kommunikation von Telefongesprächen und Meetings intelligent zu vernetzen, Wartezeiten zu nutzen und soziale Momente zu schützen. Selbstbestimmung in der Netzwerkgesellschaft heißt: Ziele setzen, Filter finden, Zeit definieren.

Ressource der Zukunft: Echtzeit

Unternehmen konnten bisher nicht in Echtzeit kommunizieren. Es war bislang weder technologisch noch ökonomisch möglich, spontan mit Kunden zu kommunizieren. Social Media haben beide Mauern gesprengt. So organisiert der Microblogging-Dienstleister Twitter eine spontane Medienöffentlichkeit zu Nullkosten. Das US-Handelshaus für Unterhaltungselektronik, Best Buy, hat die Chancen der Zeit erkannt.

Um auf das permanente Gezwitscher der Kunden bei Twitter reagieren zu können, hat Best Buy ein firmeneigenes Microblogging-System entwickelt: Twelpforce (Tw-itter-H-elpforce). Seit dem Sommer 2009 können 2.500 Mitarbeiter direkt auf Kundenwünsche und Beschwerden antworten. Der IT-Abteilung ist es gelungen, die geschlossene hausinterne Dateninfrastruktur sinnvoll mit dem öffentlichen Twitter-Netzwerk zu verbinden, ohne die Sicherheit der eigenen Server zu gefährden. Mitarbeiter aus den Abteilungen Verkauf, Service und Marketing kombinieren seit dem Sommer letzten Jahres ihr Wissen auf Twelpforce. Jeder von ihnen kann persönlich und ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten oder der Pressestelle direkt mit den Kunden kommunizieren und ihnen Hilfe anbieten. Das Unternehmen verlagert seine Kundenkommunikation in die Freizeit seiner Mitarbeiter. Durch die große Zahl der teilnehmenden Mitarbeiter entsteht eine permanente Kommunikationsbereitschaft von Best Buy, ohne dass der Einzelne übermäßig in seiner persönlichen Freizeit belastet wird. Der Erfolg dieser Echtzeitkommunikation ist überwältigend: zufriedene Kunden und steigende Umsätze bei Best Buy.

Quelle: Twelpforce Best Buy (twitter)

Allein schießt man Tore, gemeinsam erzielt man Siege

Noch spielen defensive Unternehmen gegen offensive Kunden. Die Mannschaft der Kunden hat aber eine neue Spieltaktik gelernt. Sie hat sich selbst trainiert. Sie beherrscht bereits das Zusammenspiel im Web 2.0. Individuelle Spielfreude, Schnelligkeit im Networking und eine klare Zielorientierung definieren ihre neue Spieltechnik. Unternehmen können von ihren Kunden und Mitarbeitern lernen. Das strategische Passspiel wird wichtiger als das selbstverliebte Dribbling.

Manager sollten wie Fußballtrainer sein. Sie trainieren ihre Mitarbeiter wie Spieler und motivieren ihre Mannschaft. Jeder Spieler hat seine besondere Fähigkeit und Aufgabe, aber entscheidet auf dem Spielfeld über seinen Einsatz autonom. Einfache Regeln, klare Sanktionen, individuelle Leistungen und kollektives Mannschaftsspiel entscheiden über Sieg oder Niederlage. Das Geheimnis der Erfolgreichen heißt Flow.Control.

Peter Wippermann
Gründer Trendbüro
Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität, Essen