Stellen Sie sich vor, Sie veranstalten einen Workshop für die Leitungselite Ihres Unternehmens. Die Rolle des Internets soll analysiert und die zukünftige Kommunikationsstrategie entwickelt werden. Sie machen zu Beginn eine TED-Umfrage. Das Ergebnis ist überraschend. Fast alle sind sich einig: Das Internet ist die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts.
Sie kommen gemeinsam auf viele neue Ideen. Mit Ihren Mitarbeitern und Kunden wollen Sie im permanenten Gespräch bleiben. Sie sprechen über das mobile Internet, über Blogging und Twitter. Begeistern sich für den Einsatz von rechtssicheren De-Mail-Dokumenten. Sie stellen fest, dass die Entwicklungszeiten und die Entwicklungskosten permanent steigen, die Vermarktungszeiten aber immer kürzer werden. Abhilfe versprechen Sie sich von den Innovationsbörsen, wie sie Procter & Gamble beispielhaft mit „connect + develop“ eingeführt hat. Das Problemlösungsangebot „Innocentive“ ist Anregung für alle Problemsucher, die eine offene Plattform bevorzugen. Für die hausinterne Nutzung halten viele die Projektentwicklungsplattform „amazee“ für ideal. Die Kommunikationsstrategie Ihres Unternehmens wird diskutiert, als könnte man sie neu erfinden.
Einige Vorschläge kreisen um Location-Based Services, die Ihre Dienstleistungen vor Ort kundengerecht revolutionieren könnten. Andere beschäftigen sich mit dem Web 2.0 und seinen Social-Media-Angeboten. Die kommerzielle Nutzung von Facebook, mit seinen 500 Millionen privaten Nutzern, fasziniert Sie. Die sozialen Netzwerke zur Pflege von Businesskontakten, wie LinkedIn oder Xing, werden nicht nur für das Employer-Branding vorgeschlagen, sondern als Vertriebskanal unter Entscheidern. Ihr Ziel ist die projektmäßige Zusammenarbeit von Mitarbeitern und Kunden in Echtzeit. Das macht für Sie die Wertsteigerung der Kommunikation von morgen aus.
Ja, Sie überlegen sogar, wie Sie die modulare Produktion einer massenhaften Maßanfertigung in einer neuen digitalen Fabrik realisieren können. Das Herauslösen von Gliedern der Wertschöpfungskette würde die Gewinne Ihres Unternehmens drastisch erhöhen. Eine Vorfinanzierung der Produktion durch die Kunden könnte Sie unabhängiger von den Finanzmärkten machen. Unternehmen wie Nike sind über die Homepage NIKEiD seit Jahren in der kundenindividuellen Massenproduktion erfolgreich. Das spornt Sie an.
Sie beschränken sich nicht auf das Senken von Kosten, sondern wollen diese ganz vermeiden. Prozesse und Produkte sollen aus der Sicht des Kunden neu gestaltet werden. Sie haben viele interessante Vorschläge für Projekte. Sie stimmen noch über die Bedeutung der einzelnen Vorschläge ab, dann sind Sie hochzufrieden mit sich und dem kollegialen Brainstorming.
Wir wollen Dinge nicht erkennen,
wenn wir sie emotional nicht wahrhaben wollen.
Jetzt schlägt die Stunde der Wahrheit. Die entscheidende Frage wird gestellt: „Wer realisiert diese Ideen? Welche Abteilung übernimmt die Projektentwicklung? Wer organisiert das Change-Management-Projekt Web 2.0?“ Schweigen. Keiner meldet sich freiwillig. Es fehlt einfach die Zeit. Alle sind voll ausgelastet. Mehr geht nicht. Die emotionale Priorität hat die Tagesarbeit. Das Heute bleibt wichtiger als das Morgen.
Dann kommt die Erlösung von oben. Die Autorität stellt fest, dass das Internet doch auch nur ein Medium ist. Medienarbeit aber sei doch schließlich Sache der Bereiche Kommunikation und Marketing. Man spürt die kollektive Erleichterung im Raum. Es gibt sie noch, die gute alte Arbeitsteilung. Es gibt auch in Ihrem Unternehmen Spezialisten und klare Verantwortlichkeiten. Es gibt Sie.
Wir können Dinge nur erkennen,
die eine Sprache sprechen, die wir verstehen.
Sie sind Held der Kommunikation. Sie haben das Zeug zum Trainer und Sparringspartner. Sie wissen, dass es nicht mehr reicht, Informationen zu sammeln und zu verbreiten. Sie haben gelernt zu kommunizieren. Sie sind der Dolmetscher zwischen dem Monolog der Arbeitsteilung und dem Dialog der Zusammenarbeit. Sie sind der Change-Manager, der die Möglichkeiten von Web 2.0 kennt und im Unternehmen systemisch bekannt machen wird.
Sie sprechen die vielen Sprachen der Fachabteilungen und kennen die Zugangscodes zu den Spezialisten. Über Fakten, Zahlen und Statistiken informieren Sie das Management und die Finanzwelt. Storys und Mythen prägen Ihren Gedankenaustausch mit den Mitarbeitern und Gewerkschaften. Durch starke Bilder erzeugen Sie große Gefühle bei Kunden und Politikern. Sie wissen am besten um die Bedeutung von offenem Gedankenaustausch, von Kooperation und Innovationen. Das macht Sie zum Kommunikations-Coach.
Ihre Kernkompetenz heißt: vorschlagen, zuhören und antworten. Sie wissen aber auch um die Macht der Software und können sie sinnvoll einsetzen. Ihr Erfolg wird zum Synergiespiel von Kultur und Technologie. Die permanente Kombination unterschiedlichster Fähigkeiten, Tätigkeiten und Erfahrungen ist Ihr Metier. Sie steigern die Kommunikationsbereitschaft, erhöhen die Flexibilität und beschleunigen die mediale Dynamik des Unternehmens.
Wir können nur etwas erkennen,
wenn es für unser persönliches Zukunftsbild interessant ist.
Entlernen wird zur wichtigen Tugend. Der Blick in den Rückspiegel der eigenen Erfolge wird für Mitarbeiter und Unternehmen zunehmend kontraproduktiv. Die Verfallszeiten von Fachwissen werden immer kürzer, deshalb müssen Sie in der Lage sein, das Wissen, das Ihnen gerade noch nützlich erschien, aufzugeben. Nur wer den persönlichen Realitätstunnel verlassen kann, ist bereit für neue Horizonte.
Die Arbeitswelt wird nicht nur täglich komplexer, die rasend schnelle technische Evolution lässt erlernte Fähigkeiten auch immer schneller veralten. War das Silodenken in der Industriekultur der Schlüssel zum ökonomischen Erfolg, passt er für den Zugang zur Netzwerkökonomie nicht mehr. Die Gatekeeper der alten Matrix verlieren ihre Macht, wenn aus der Hierachie ein Netzwerk wird. Dialoge auf Augenhöhe erfordern Vertrauen, Transparenz und vor allem gemeinsame Ziele.
Das Internet ist kein zusätzlicher Medienkanal. Kommunikationsstrategen müssen entlernen lernen. Sie müssen erkennen, dass es nicht nur um interne und externe Öffentlichkeitsarbeit geht. Interaktive Netzwerkmedien sind zur zweiten Realität geworden. Sie berichten nicht mehr über die Welt, sondern bilden ein virtuelles Paralleluniversum. Unter Internetbedingungen wird das Privatleben zum Softwareprogramm. Vernetzte Datenbanken sind die Fabriken der virtuellen Wirtschaft.
Das Internet wird das Organisationsmodell der traditionellen Unternehmen infrage stellen oder sogar zerstören.
Die Säulen in der Hierarchie der Matrixorganisationen sind immer noch stabil. Mentale Oberbefehlshaber stellen nach wie vor Regelwerke auf. Das Controlling überprüft noch immer erfolgreich Soll-Ist-Abweichungen und steigert die Effizienz wiederholbarer Abläufe. Für eine vernetzte, dynamische und globale Wirtschaft geht es aber künftig um Flexibilität. Aktions-struktur und Prozessflexibilität werden zum Wettbewerbsfaktor. Innovationen in der technologischen Struktur des Internets, wie Cloud-Computing, verändern seine ökonomische Nutzung. Die Trennung von lokaler und netzbasierter Datenhaltung ist verschwunden. Die Qualität von Prozessgemeinschaften löst die klassische Produktionsgemeinschaft ab. Marketing und Verkaufen verbinden sich. Kunden werden zu Mitarbeitern auf Zeit.
Das Thema Transparenz und Vertrauen unter Bedingungen von Social Media stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen. Don Tapscott, Management-Professor an der Universität Toronto, kommentierte treffend die Situation: „Das Unternehmen ist nackt. Und wer keine Kleider trägt, sollte wenigstens eine gute Figur machen.“
Jeder, ob Mitarbeiter oder Kunde, kann jetzt auch ohne Programmierkenntnisse seine Informationen, Meinungen, Bilder und Dokumente global verbreiten. Das Vorsprungswissen der Kommunikationsspezialisten sieht sich plötzlich herausgefordert von der Schwarmintelligenz der breiten Massen. Nutzer und Experten reden jetzt auf Augenhöhe miteinander. Aber am liebsten plaudern Nutzer untereinander. Sie reden über Marken, Produkte und Services, aber nicht mit den Produzenten und Dienstleistern, sondern über sie. Unternehmen müssen zuhören lernen. Die neuen Social-Media-Analysen geben hier erste Hilfestellung. Erst wer weiß, worüber gesprochen wird, kann mitreden. Wer nicht antwortet, fliegt raus.
Persönlich sind wir schnell bereit, uns den neuen Gegebenheiten anzupassen.
Aber als Unternehmen?
Wir haben uns privat daran gewöhnt, jederzeit erreichbar zu sein. 110 Millionen Mobilfunkverträge bei 82 Millionen Deutschen machen den Trend zum Zweithandy deutlich. Die Summe aller Handy-Gesprächsminuten im Jahr ist auf 169 Milliarden Minuten gestiegen und hat sich seit 2005 mehr als verdoppelt. Die permanente Fernanwesenheit ist zum Lifestyle geworden. Das persönliche Zukunftsbild verbindet Individualität mit Zugehörigkeit und mediale Nähe mit Freiheit.
Jederzeit individuelle, ortsbezogene Daten in Echtzeit nutzen zu können ist für die Business-Elite heute schon selbstverständlich geworden. Die Vernetzung von Arbeit und Freizeit ist für viele angestrebte Realität. Die alte Idee des Homeworking feiert als Mobile Working eine Wiedergeburt. Das mobile Internet ist der Arbeitsplatz in der Hosen- oder Handtasche. In zehn Jahren wird die Hälfte des gesamten Datenverkehrs im mobilen Internet erwartet. Ein Doppelleben in der ersten und zweiten Wirklichkeit wird die Kommunikationsrealität von übermorgen sein.
Peter Wippermann
Gründer Trendbüro
Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität, Essen