Return on Influence

Spontane Macht für Bürger und Konsumenten
Auf den Informationsmärkten herrscht ein harter Verdrängungswettbewerb. Die analogen Massenmedien differenzieren sich immer weiter aus: Noch mehr Magazine, noch mehr Fernsehkanäle und noch mehr Radioprogramme sind die Folge. Ein Information-Overload ist die Konsequenz und wird zum Problem. Nicht nur für Menschen, sondern auch für Unternehmen und Organisationen. Der Tag hat nach wie vor 24 Stunden. Selbst das wohlwollendste Multitasking kann die Informationsflut nicht eindämmen. Für Unternehmen aber ist es ökonomisch sinnlos, die Werbeetats grenzenlos zu erhöhen, um der explosionsartigen Zersplitterung der Medienkanäle zu folgen. Die Steigerungslogik des Werbedrucks hört bei „360-Grad-Multichannel-24/7-Strategien“ auf. Informationen kann man beliebig vermehren, Aufmerksamkeit leider nicht.

Wer allein den „Return of Investment“ der Marketingetats kontrollieren will, übersieht dabei leicht den Strukturwechsel. In der Industriekultur sprachen Produzenten direkt zu den Mitarbeitern, Zulieferern, Vertriebspartnern und meist bloß indirekt zu den Konsumenten und Aktionären. Die direkten Beziehungen zu den Endkunden und Anlegern knüpften in der Regel nur die Händler oder Analysten. Unter Internetbedingungen kann sich jeder mit jedem austauschen. Aus den getrennten Kommunikationssphären von Business-to-Business (B-to-B) und Business-to-Consumer (B-to-C) wird zusehends eine Kommunikation unter Gleichen: Peer-to-Peer (P-to-P). Märkte sind Gespräche – das wird zum Selbstverständnis der Netzwerkökonomie. Diese Tatsache verändert die etablierten Machtstrukturen.

Nimmt man diesen Machtwechsel ernst, erkennt man, wie wichtig es ist, mitreden zu können und durch gemeinsame Kommunikation den Einfluss auf die Community zu steigern. So macht es durchaus Sinn, die finanzielle Skalierbarkeit des „Return of Investment“ aufzugeben und stattdessen den sozialen Maßstab „Return on Influence“ als Erfolgsfaktor in der Meinungsbildung zu anzusehen. Das neue „Währungssystem“ ersetzt Monologe durch Dialoge. Nicht, was ich versende, sondern, wie geantwortet wird, entscheidet. Das ist weniger eine Frage von Marktdominanz oder Bekanntheit, sondern mehr eine von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Vertrauen kann man nicht kaufen oder erzwingen, man bekommt es geschenkt.

Anerkennung setzt gemeinsame geteilte Werte voraus
Durch das Web 2.0 mit seiner Informationssymmetrie (Share-Technologie) haben Bürger und Konsumenten medial aufgerüstet. Das Internet vergrößert nicht nur ihren Konsum von Medien, sondern ermöglicht ihnen auch eine eigene Produktion von Medien. Seit 2003 kann man im Web 2.0 eigene Inhalte erstellen, bearbeiten und verteilen. Das persönliche Publizieren wird seitdem unterstützt von expressiven Medien, wie Blogs, Twitter, Facebook, Flickr und YouTube, oder kollaborativen Medien, wie Wikis und Wikipedia. Die Nutzer der Medien sind nicht mehr passiv, sondern aktiv. Sie sind nicht mehr unwissend, sondern gut informiert. Sie sind nicht mehr isoliert, sondern können sich jederzeit zu großen virtuellen Schwärmen verbinden. Dadurch gewinnen sie mehr gesellschaftliche Macht.

Agenda-Setting war schon immer eine Voraussetzung für Macht. Durch Agenda-Setting versteht jeder die Situation, und alle wissen, dass es die anderen auch wissen. Die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken war bisher das Privileg der Massenmedien. Sie hatten zwar keinen großen Einfluss auf das, was das Publikum zu einem Thema denkt, aber erheblichen Einfluss darauf, worüber es sich Gedanken macht. Über das Web 2.0 ist es nun auch für Einzelne möglich geworden, Themen vorzuschlagen und die Diskussion über sie hochzuschaukeln. Die authentische Stimme eines Mitglieds der eigenen Community genießt bei Internetnutzern mehr Vertrauen als die veröffentlichte Meinung der Massenmedien. Mitreden zu können schafft Anerkennung. So wird im Internet Mundpropaganda zur öffentlichen Tatsache.

Man muss heute nicht mehr Mitglied in einer Organisation sein, um kollektive Interessen wirkungsvoll umzusetzen. Bisher waren disziplinierte und koordinierte Gruppen, wie Parteien, Verbände oder NGOs, effektiver darin, ihre Anliegen in der Gesellschaft zu vertreten, als lose agierende Gruppen. Soziale Netzwerke, wie Facebook, machen jetzt gemeinsame Aktionen ohne Aufwand jederzeit realistisch. Durch das Web 2.0 fallen die Kosten für die Koordination von Aktionen auf ein Minimum. Für große Gemeinschaften mit schwachen Bindungen untereinander ist es möglich geworden, sich schnell in Zeit und Raum zu koordinieren. Flash-Mobs, spontane, aber organisierte Massenveranstaltungen, haben längst die alternativen Nischen der Subkultur verlassen. Ob es der bürgerliche Zorn „Stuttgart 21“ gegen das Großprojekt des Bahnhofsumbaus in der baden-württembergischen Landeshauptstadt war oder die politischen Rebellionen der Jugend in Ägypten, Tunesien und Libyen im Februar 2011. Die neue Organisationsform der spontanen Mehrheiten trifft dabei nicht nur die Politiker, sondern auch die Würdenträger der Kirchen wie die Verantwortlichen der Unternehmen. Flash-Mobs sind die Organisationsformen unzufriedener Bürger und Konsumenten.

Spontane Macht für Bürger und Konsumenten
Ein Machtbeben hat begonnen. Wikileaks ist nur der Anfang einer permanenten Einmischung einzelner Organisationen in die staatliche Immunität. Wikileaks hat sich zum Ziel gesetzt, geheim gehaltene Dokumente allgemein verfügbar zu machen. Die von der Whistleblower-Plattform ins Netz gestellten Vertraulichkeiten der Politik haben auch den medialen Einfluss der klassischen Leitmedien, wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Magazine, geschwächt. Ausgesuchten Massenmedien wurde angeboten, die Materialien in den analogen Medien der Tageszeitungen und Magazine zu verbreiten. Online informiert Offline. „Heute, im Internetzeitalter, verschiebt sich die Macht von denen, die Geheimnisse haben, zu denen, die Öffentlichkeit herstellen.“ So der Internetanalytiker Jeff Jarvis, Professor an der Graduate School of Journalism, New York. Das Machtgefälle verschiebt sich aber auch von den wenigen professionellen Berichterstattern hin zu einer offenen Mehrheit jederzeit gut informierter Bürger und Konsumenten. Eins ist sicher: Der Druck auf die Politik und die Unternehmen wird weiter steigen. Diese werden ihre Entscheidungen moralisch und fachlich transparent halten müssen. Die Bürger und Konsumenten werden deren Handeln, aber auch deren Weltbild jederzeit im Detail überprüfen.

Der amerikanische Autor und Berater für neue Medien, Clay Shirky, beschreibt in seinem Essay „The Political Power of Social Media“ den aktuellen medialen Machtwechsel mit dem Dilemma der Diktatoren: „Regierungen können versuchen, auf unliebsame Demonstrationen mit Propaganda und im schlimmsten Fall mit Zensur zu reagieren. Unternehmen können ihre Marketingkommunikation von Werbung bis PR einsetzen und im härtesten Fall mit dem Anwalt agieren. Unter den Bedingungen der Massenmedien wurde vertikal informiert, egal ob Nachrichten, Unterhaltung oder Werbung. Durch das Web 2.0 wird die Aufmerksamkeit geteilt und vernetzt sich horizontal.“ Man begegnet sich auf Augenhöhe. „Macht über“ verliert, „Macht zu“ gewinnt.

Prof. Peter Wippermann