Flow.Control. Leben in virtuellen Welten

 

Die Zukunft entsteht an den Rändern unserer Gesellschaft. Sie hat die Kraft, alle Lebensbereiche zu verändern. Die Alltagskultur passt sich nur zögerlich den neuen Umweltbedingungen an. Das gibt dem aufmerksamen Beobachter die Chance, über mögliche Zukünfte nachzudenken.

Trends sind Anpassungstrategien
Bei dieser Arbeit helfen Trends. Trends sind Arbeitsbegriffe der sich entwickelnden Zukünfte. Sie benennen gemeinsame Anpassungstrategien an eine sich verändernde Umwelt. Sie sind Bindungsangebote ohne Institutionen und ersetzen Traditionen. Trends und Gegentrends bieten widersprüchliche Alternativen auf dieselben Herausforderungen.

Landschaften zwischen Grundbedürfnis und Fortschrittsdenken
Wer sich mit der Zukunft der Landschaften in Deutschland in den nächsten 20 Jahren auseinandersetzen möchte, kommt um die Betrachtung widersprüchlicher Trends nicht umhin: Eine zunehmende Technisierung auf der einen Seite, eine wachsende Sehnsucht nach Natur auf der anderen. Ein klares Wachstum der Städte, das eine Neuausrichtung der ländlichen Gebiete bedingt. Und eine Überkomplexität des Alltags der Menschen, die in neue Coping-Strategien münden wird.

Mitbestimmung als menschliches Grundbedürfnis
Die wichtigsten Entwicklungen in Ökonomie, Medien und Gesellschaft der jüngsten Vergangenheit werden sich in Zukunft fortsetzen und gegenseitig verstärken. Dazu gehören ein Zuwachs an Informationen, die auf multimedialen Wegen vermittelt werden sowie das steigende Bedürfnis nach Eigenverantwortung und Mitbestimmung der Menschen. Auch die Hersteller von Produkten und Dienstleistungen werden darauf reagieren müssen.

Personal Media weist den Weg durch die Multioptions-Gesellschaft
Der Einzelne hat in Zukunft immer mehr Optionen, die durch eine Vielzahl an Informationen übermittelt werden. Personal Media ist die wichtigste Zugangstechnologie. Die wichtigsten Schlagworte, die diesen Lifestyle zusammenfassen, sind: digital, persönlich, global und mobil. Der Zuwachs an Informationen führt zu einem Verlust an Bedeutungen und schürt die Angst, die Orientierung in diesem Informationsdickicht zu verlieren.

Flow. Control. als sinnvolle Informationslogistik
Als Reaktion darauf wächst die Sehnsucht nach einer neuen Informationslogistik, einer zeitweisen Unterbrechung des Datenflusses, einem neuen Flow.Control. Flow.Control. ist ein mehrdeutiger Arbeitsbegriff. Der bei der Steuerung von komplexen, schnell ablaufenden Systemen entstehende Flow greift auf unser Leben über: Control steht für den Versuch, zwischen Über- und Unterforderung die Balance zu halten. Das Ziel ist ein persönlicher Life Flow, den man anschwellen (verlinken), eindeichen (filtern), aber auch versickern lassen (unsichtbar machen) kann. Flow.Control. ist ein Trend, der in einer dynamischen und flexiblen Gesellschaft geschäftlich zum Wettbewerbsvorteil und privat zum Glück führen kann.

Flow. Control. meint Balance von Work-Flow und Life-Flow
Der anschwellende Datenstrom ist über die Ufer der traditionellen Medienkanäle getreten. Die Deiche zwischen Kommunikation, Transaktion und Produktion sind unter den Bedingungen des Internets gebrochen. Die Grenzen von Arbeit und Freizeit verschmelzen zu einem einzigen Flow. Ein virtuelles Doppelleben zwischen Work-Flow und Life-Flow bietet unbekannte Chancen und Risiken. Für die nächsten Jahre wird es besonders darauf ankommen, dass man sich nicht nur für die neuen Technologien begeistert, sondern vor allem ihre kulturelle Akzeptanz analysiert.

Das Web 2.0 ist ein Vernetzungsinstrument
Unternehmen können von der neuen digitalen Real-Time-Analyse des Life-Flows ihrer Kunden enorm profitieren: Geoinformationen, Bewegungsbilder, hoch individualisierte Bedürfnis- und Konsumprofile und das steigende Involvement der Konsumenten mit ihren Marken im Social Web unterstützen allesamt das Beziehungsmanagement zwischen Unternehmen und souveränen Konsumenten.

Die Vorteile der Vernetzung müssen die Nachteile aufwiegen
Auf der anderen Seite entwickeln Arbeitnehmer und Konsumenten neue Abwehrformen gegen die Übergriffe des Work-Flow auf ihr privates Leben. Die Vorbehalte gegen den gläsernen Kunden und den digital völlig verfügbar gemachten Mitarbeiter wachsen. Mit der Angst vor dem Kontrollverlust verstärkt sich der Wunsch nach Privacy. Gleichzeitig stehen die Früchte der Digitalisierung und der neue Komfort der Vernetzung immer noch nur wenigen zur Verfügung.

Das Altersbeben als wichtigster gesellschaftlicher Trend
Die Lebenswelt der Menschen wird sich in den nächsten Jahren radikal verändern. Grund für diese Entwicklungen ist das Altersbeben. Ein höherer Anteil älterer Menschen bedeutet nicht, dass Energie und Zukunftsoptimismus aus unserer Gesellschaft verschwinden werden. Im Gegenteil ist eine objektiv alternde Gesellschaft in Wahrheit eine subjektiv sich verjüngende. Weil die Übermacht der Älteren eine neue Sehnsucht nach Jugendlichkeit und Innovationsbereitschaft mit sich bringt. Aber auch, weil diejenigen, die jetzt in die Jahre kommen, als Erfinder der Selbstverwirklichung gelten. In den kommenden zwei Dekaden werden all jene ihren 70. und 80. Geburtstag feiern, die in den Jahren nach `68 die persönliche Freiheit zur Maxime auserkoren haben.

Eigenverantwortung als Grundprinzip
Im Laufe der Jahre sind aus den Weltverbesserern Selbstverbesserer geworden. Das einstige Mantra der Selbstfindung ist längst dem moderneren Selbstdesign gewichen. Die Familie wurde von diesen Dauerjugendlichen durch Netzwerkpartner ersetzt. Schicksal wird nicht mehr akzeptiert sondern als persönliche Lebensstrategie neu umgesetzt. Und sogar die Individualisierung hat sich gewandelt: Das Ich ist nichts ohne das Wir, Peer-Fokus-Groups bestimmen das Miteinander. Deswegen reicht auch die Grundidee der Aufmerksamkeits-Erzeugung nicht mehr aus, um das Lebensgefühl dieser Menschen zu beschreiben. Aus Aufmerksamkeit muss künftig Anerkennung werden.

Personal Media ermöglichen sozialen Reichtum
Die wichtigste Entwicklung auf den Medien-Märkten lässt sich am besten mit dem Prinzip des Sozialen Reichtums beschreiben. Wenn viele Menschen gemeinsam an einer Sache arbeiten, entsteht sozialer Reichtum. Mit Hilfe des Web 2.0 ist es leicht geworden, gemeinsam zu kommunizieren. Technik ist in diesem Sinn nur das Trägermedium einer neuen Form des Austauschs. In den nächsten Jahren werden wir erleben, wie die Vorbehalte gegen die mediale Vernetzung weiter schrumpfen. Datenschutz-Fragen müssen neu überdacht werden, wenn Medien den Alltag des Einzelnen weiter beeinflussen und damit vereinfachen.

Social Media krempelt die Medien-Branche um
Das Grundprinzip der letzten Jahrzehnte, bei dem jeder Mensch alleine die Medien rezipierte (N = 1) wird durch die neue Regel R = G abgelöst. Die Ressourcen werden global, Social Media wird zum Türöffner einer globalen Öffentlichkeit, Personal Media verkommt zur reinen Zugangstechnologie. Die Bedürfnisse der Menschen bei der Nutzung der Medien verändern sich. Technik und Medien müssen darauf reagieren, dass sozialer Reichtum zur wichtigsten Währung eines neuen Zeitalters wird. Diese Veränderungen entsprechen auch dem Bedürfnis nach Simplexity: Komplexität wird durch einfache Lösungen gemildert – auch so lässt sich sozialer Reichtum generieren.

Das Leistungsprinzip beherrscht die Netzwerk-Ökonomie
Dieser letzte Punkt deutet an, welche Werte die Märkte unserer kommenden Netzwerk-Ökonomie prägen werden: Es ist die Leistungsorientierung, die alle ökonomischen Entwicklungen überstrahlt. Neue flexible und modulare Arbeits-, Familien- und Freizeitformen implizieren, dass ein Leben im Stand-by-Modus zur Normalität werden muss. Auf den globalisierten Wissensmärkten müssen die Menschen quasi rund-um-die-Uhr erreichbar sein.

Die Natur wird zum Symbol für Zeitsouveränität
Trotz des Zugewinns an Möglichkeiten sind mit dieser Entwicklung auch Verluste verbunden. Das Gefühl für die eigene Zeitsouveränität geht genauso verloren wie die enge Verbundenheit zur Natur. Doch alles, was verschwindet, steigt im Wert. Im Falle der Naturverbundenheit zeigt sich das an einer neuen, beinahe folkloristischen Begeisterung für Heimat- und Natur-Themen. Die Zeitschrift „Landlust“ feiert beständig neue Auflagenrekorde, der Fernseh-Zeitschriften-Dinosaurier „Hörzu“ kommt in diesem Winter mit einer „Hörzu Heimat“-Ausgabe an die Kioske.

Die Urbanauten erfasst eine neue Sehnsucht nach Natur und Landschaften
Der Bestseller beim Heimweh-Einrichter Manufactum in Berlin waren in diesem Jahr Einweckgläser mit Gummi-Glas-Verschluss für knapp 10 Euro. Das Einkochen und Bewahren, das Bestellen kleiner Gartenstücke oder Re-Naturieren öffentlicher Flächen ist der Gegentrend, der zeigt, dass die globalisierten Bewohner der Metropolen sich zurück zur Natur und Landschaft wünschen. Urban Gardening ist das Guerilla-Gärtnern einer neuen Generation von Öko-Aktivisten, die ihre Rezepte zum Bau von Samen-Bomben auf einschlägigen Sites im Internet verraten.

Coopetition = Cooperation + Competition
Die konstanten Verkaufszahlen im Bereich von Bio-Lebensmitteln, ein wachsendes Interesse an Produkten mit Bio-Zertifikat bei Kleidungsstücken, Kosmetika, Einrichtungsgegenständen, die Bereitschaft zum Energiesparen, Modernisieren und die Umstellung auf alternative Energien – all das sind Zeichen für ein wachsendes Naturbewusstsein unserer Mitbürger. Und auch die Wirtschaft nimmt diesen Trend auf. Das Beispiel von Green Logistics zeigt, wie sich Coopetition zum Nutzen aller Beteiligter und unserer Umwelt realisieren lässt.

Green Logistics als Symbol eines ökonomischen Ökologiebewusstseins
Green Logistics meint den Kosten- und nachhaltigkeitsorientieren Einsatz von Transportern, gemeinsame Lager, Vermeidung von Leerfahrten, weniger Kosten und einen verringerten CO2-Ausstoß. Sogar konkurrierende Branchen und Unternehmen schließen sich zusammen. Den Endverbraucher können Firmen und Einzelhändler mit Informationen über ihre Umweltbilanz überzeugen. Sogar McDonalds hat nun in Mailand seine erste klimaneutrale Filiale eröffnet – inklusive Stromtankstelle für Elektroautos vor der Tür.

Wir brauchen die Medien um aufzuklären
Bisher jedoch gehört der Einkauf nicht zu den Hauptbereichen, bei denen der Einzelne das Gefühl hat, etwas gegen den Klimawandel tun zu können. Die Marktforscher von Forsa haben im Auftrag der Hamburger Sparkasse ermittelt, dass nur 19 Prozent glauben, beim Shoppen aktiv etwas gegen das Global Warming tun zu müssen, 33 Prozent sind dazu bei Flugreisen bereit, 42 Prozent beim Autofahren. Richtig motiviert werden die Menschen zum Engagement für die Umwelt, wenn sie im Fernsehen Bilder von bedrohten Eisbären sehen (76 %), 79 Prozent fühlen sich dazu aufgerufen, wenn sie Fernsehbilder von abschmelzenden Gletschern zu sehen bekommen.

Der Einzelne muss in seinem persönlichen Umfeld angesprochen werden
Daraus lassen sich folgende drei Grundprinzipien ableiten: 1. Wir wollen Dinge nicht erkennen, wenn wir sie emotional nicht wahrhaben wollen. 2. Wir können nur Dinge erkennen, die eine Sprache sprechen, die wir verstehen. 3. Wir können nur etwas erkennen, wenn es für unser persönliches Zukunftsbild interessant ist. Wer immer sich also darum bemüht, die Menschen für den Umweltschutz und den Erhalt von Natur und Landschaften zu begeistern, muss sich um eine emotionale Ansprache bemühen und klarmachen, wie sich diese Entwicklung auf das Leben des Einzelnen auswirken wird. Die Themen Umwelt und Naturschutz müssen aus der Abstraktion in die Realität des Alltags überführt werden.

Die Landschaften bewahren, um den Fortschritt voranzutreiben
Natur und Landschaft müssen zu etwas werden, was nicht nur weit draußen auf dem Land passiert. Auch Städte brauchen neben dem Wohn- und dem Arbeitsraum einen Freizeit- und Naturbereich. Der Mensch ist nichts ohne die Natur. Doch die Landschaften brauchen den Schutz der Menschen, um auch in den nächsten Jahrzehnten weiter zu gedeihen. Das Leben in virtuellen Welten mit all seinen Vorteilen ist nur möglich, wenn es die reale Welt mit grünen Landschaften weiterhin gibt. Flow.Control. ist ein neuer Megatrend, der widersprüchliche Sehnsüchte vereint. Trend und Gegentrend als Antwort der Natur auf die Technik und andersherum.

Text zum Vortrag von Prof. Peter Wippermann beim Bundesamt für Naturschutz
Internationale Naturschutzakademie Insel Vilm
Erschienen: Landschaften in Deutschland 2030 - Der stille Wandel
ISBN 978-3-89624-038-5