Beschleunigungs und Ernährungstrends - Ein Blick in die Zukunft

Ein Fachbeitrag von Prof. Peter Wippermann, erschienen in der Februarausgabe der Ernährungs-Umschau

Prof. Peter Wippermann fasst wichtige Entwicklungen in fünf übergeordneten Trends zusammen:

1. „In Zeiten von hektischen und fragmentierten Tagesabläufen verlieren Mahlzeiten ihre Rolle als Strukturgeber. Wir essen zukünftig zwischendrin und nebenbei.“
2. „Gesunde Ernährung: ja!, aber ohne zeitlichen Aufwand. Convenience als neues Qualitätskriterium und Gesundheit dürfen sich zukünftig nicht mehr ausschließen.“
3. „Die hohen Ansprüche der Leistungsgesellschaft beeinflussen auch unser Ernährungsverhalten. Lebensmittel-Produkte werden zu Allroundtalenten: Sie müssen gesund, funktional und einfach sein. Nahrung wird damit zum Leistungskatalysator. Functional Food wird zur aktiven Komponente eines gesunden Lebensstils und die Grenze zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit löst sich zunehmend auf. Gesund ist, was Wirkung zeigt.“
4. „Mahlzeiten als kostbare und bewusste Genussmomente.Wenn wir uns schon die Zeit für bewusstes Essen nehmen, erwarten wir einzigartige Erlebnisse für alle Sinne.“
5. „In Zeiten, in denen traditionelle Familienstrukturen immer seltener werden – so lebten in Deutschland im Jahr 2011 nur noch 49 % in Familien, der niedrigste Stand seit 1996 – gewinnt die soziale Komponente von Essen an Relevanz. Gemeinsame Mahlzeiten werden zu kollektiven Events.“




Übergewicht und Magersucht

Die Entstrukturierung der Gesellschaft schreitet weiter voran.

Die Individualisierung hat die Familie erreicht. So ist Regensburg im Jahre 2011 Europas Singlehauptstadt geworden. Mit 55,4 Prozent gemeldeter Einfamilien-Haushalte lag die Universitätsstadt 2011 zum ersten Mal vor Berlin mit 52,4 Prozent Singles. Gleichzeitig wird die Arbeitswelt dynamischer und flexibler. Das Durchschnittsalter für CEO’s in Deutschland ist zwischen 2003 und 2010 um sechs Jahre gefallen. Die Vertragsdauer hat sich in der Regel von fünf auf drei Jahre verkürzt. Schneller, effizienter, globaler und virtueller sollen die Ergebnisse für die Finanzmärkte geliefert werden. Das übt einen Druck auf die gesamte Arbeitswelt aus.

Darüber hinaus fördern Smartphones und Tabletcomputer die Verschmelzung von Arbeitszeit und Freizeit. Schon 2014 wird es weltweit mehr mobile als verortete Computer geben. Die berufliche und private Welt vernetzen sich auf einem Interface und werden allgegenwärtig. Die permanente Fernanwesenheit in der Arbeitswelt fordert die persönliche Entscheidungskraft. Sich Zeit für das Essen zu nehmen wird zur bewussten Entscheidung. Die Eigenzeit zu strukturieren wird für viele zur Herausforderung. Als Zeitressource wird die Nahrungsaufnahme erkannt. So verschwindet die Tradition der geregelten Mahlzeiten zunehmend aus dem Alltag. „To go“ war erst der Anfang.

Es ist kein Geheimnis, dass sich Menschen nach Dingen sehnen, die gegenwärtig nicht präsent sind. Beobachten wir die fortschreitende Entstrukturierung, so kann die Antwort darauf nur aus zunehmenden Ordnungsangeboten bestehen. Alles was verschwindet steigt im Wert und wird deshalb zum erstrebenswerten Ziel. Die mediale Reizüberflutung schürt einen Wunsch nach Entschleunigung und Verortung. Die Versuche einer Re-Strukturierung des Ernährungsverhaltens ist gut zu erkennen: bewusstes Essen, nachhaltige und schadstofffreie Lebensmittel. Begriffe wie „Bio“, „Region“, „Slow“ und „Handgemacht“ steigen schnell in der öffentlichen und privaten Popularität.

Je weiter sich die Gesellschaft entstrukturiert, desto intensiver wird die Suche nach Orientierung. Der Körper wird mehr und mehr zum Sinnstifter und für viele zum Mittelpunkt der eigenen Welt, so der Medientheoretiker Norbert Bolz. Damit wird die Optimierung des eigenen Körpers zur selbst gestellten Designaufgabe. Eine bewusste Ernährung konstruiert logische und sinnlich erfahrbare Ordnung.

Das Phänomen der Entstrukturierung polarisiert das Essverhalten allerdings ungemein. Diejenigen, die es nicht schaffen, sich und ihre Umgebung neu zu ordnen, geraten in einen Zustand sehnsuchtsvoller Orientierungslosigkeit. Ein Kontrollverlust über das eigene Essverhalten ist die Folge. Nahrungsaufnahme wird zur Sucht. Der grenzenlos gewordene Körper macht einsam. Ein sozialer Abstieg folgt. Die endlose Schraube des Frustes führt zu Übergewichtigkeit oder Magersucht.

Prof. Peter Wippermann