„Früher zählte Ästhetik. Heute entscheiden Werte.“

Heute steht der Initiator und Projektleiter des Trendbüro Werte-Index
Prof. Peter Wippermann Rede und Antwort:
Wie bleibt man als Unternehmen flexibel, ohne sich zu verbiegen?
Was ist Trust Design? Und warum macht Apple dieses Mal nur fast alles richtig?

Herr Wippermann, von Ihnen stammt die Idee für den Trendbüro Werte-Index. Warum erfährt das Thema „Werte“ gerade heute ein solche Brisanz?

Flexibilität und Dynamik sind in der Netzwerkökonomie alltäglich geworden. Lineare Prozesse lassen sich nicht mehr planen. Man kann sich auf nichts Festes mehr berufen. Ein dynamisches, sich ständig veränderndes Umfeld erfordert die Fähigkeit, flexibel reagieren zu können. Im Gegenzug braucht man eine definierte Haltung, welche sich aus den eigenen Werten generiert und diese offen nach außen kommuniziert. Sich durch Flexibilität nicht deformieren zu lassen, sondern die eigene Gestalt immer wieder zurück zu erlangen - das ist die Aufgabe.

Werte sind darüber hinaus das Filtersystem in unserem hochkomplexen dynamischen Alltag. In unübersichtlichen Situationen, also sagen wir im Weißwasser, wo es schäumt und gischt, sucht man nach einem Boot oder einem Felsen. In dieser Situation ist es entscheidend, dass die Erwartungen daran nicht enttäuscht werden. Auf Unternehmen umgemünzt, bedeutet es, zunächst Vertrauen zu wecken, und dann dieses geschenkte Vertrauen zu gestalten und profitabler zu machen. Die große Kunst besteht demnach darin, aus einem Fels in der Brandung einen Diamanten zu machen.

Werte und Vertrauen sind also gleichzusetzen?

Werte sind die Grundlage für Vertrauen. Ich vertraue eher jemandem, der ähnliche oder dieselben Werte vertritt, als anderen mit abweichenden Werten. Für Unternehmen geht es heute vor allem um die Entwicklung und Gestaltung von Vertrauen. Wie organisiert man Vertrauen? Wie designt man Vertrauen? Sowohl für Mitarbeiter als logischerweise auch für seine Kunden. Das ist die Arbeit mit Werten. Es geht darum, die eigenen Werte mit denen der Kunden zu verbinden. Die Idee, warum das Unternehmen überhaupt existiert, verbindet sich mit Ideen und Wünschen von Konsumenten. Wenn ein Faden sich mit einem anderen verknotet, verschwindet keiner davon – aber es entsteht eine neue Festigkeit, die aus einem gemeinsamen Wollen besteht. Das ist etwas anderes als eine Social-Responsibility-Kampagne. Dafür reicht keine Abteilung. Das betrifft die ganze Firma.

Warum ist die Frage nach Vertrauen für Unternehmen gerade jetzt so wichtig?

Die Orientierung am Shareholder Value hat zu Steigerungslogiken in Drei-Monats-Fristen geführt. Viele Unternehmen haben ihre langfristige Ausrichtung völlig verloren. Gewinne wurden teilweise zu Lasten der Konsumenten erzielt. Durch die Netzwerkmedien kam es zu einer Machtverschiebung zu Gunsten der Konsumenten. Das Unternehmen wird nackt, und dann sollte es eine gute Figur haben – wie Tapscott es formuliert hat. Diese Transparenz zwingt Unternehmen, sich vom Angebot von Waren und Dienstleistungen zu lösen. Sie sind gezwungen, ein Angebot auf einer Werte-Ebene zu entwickeln. Denn ein Mensch hat mehr Facetten als ein Konsument. Menschen wollen ihr Leben gestalten und nicht als Verbraucher bloß Teilaspekte möglichst schnell befriedigen.

Die Netzwerkmedien haben zudem die Facetten des Menschen erweitert. Arbeit und Freizeit verbinden sich auf dem Interface eines Personal Media Angebots. Die Trennung zwischen Mensch, Arbeitnehmer und Konsument löst sich auf. Der Endverbraucher ist Teil der Wertschöpfungskette geworden, was Toffler immer schon mit dem Begriff Prosumer definiert  hat. Wenn der Mensch Ausgangspunkt meiner Wertschöpfungsidee wird, muss ich seine Werte respektieren. Diese Ganzheitlichkeit betrifft auch die Unternehmen selbst. Damit verlieren Markenwerte an Bedeutung. Unternehmenswerte werden sehr viel interessanter und wichtiger. Wie agiert ein Unternehmen, mit wem arbeitet es zusammen, wie reagiert es auf Vorwürfe? Oder ähnliche Fragen.

Bedeutet das höhere Bedürfnis nach Vertrauen auch einen neuen Umgang damit?

Heute geht es um Trust Design – nicht mehr um Emotional Design. Ästhetik wird durch Werte ersetzt. Dieses Vertrauensdesign ist das Neue. In den letzten 20 Jahren musste es einfach geil aussehen, ästhetisch überzeugend sein und emotional ansprechen. Das spielt heute immer noch eine wichtige Rolle. Im Moment geht es Konsumenten allerdings immer mehr darum, Vertrauen zu den Unternehmen zu haben. Wenn man sich zum Beispiel die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Facebook und Google ansieht – Facebook hat beauftragt, Desinformationen über Google zu verbreiten, damit Google an Vertrauen verliert – dann sieht man, wie hart dieser Kampf um das Vertrauen im Moment geführt wird.

Warum tun sich Unternehmen so schwer damit?

Ich glaube, dass die meisten Unternehmen überhaupt keine Vorstellung davon haben, warum sie existieren, außer Profit zu machen. Und das reicht nicht aus. In Zukunft vernetzen sich die Branchen miteinander. Diejenigen, die nicht wissen, warum sie eigentlich existieren und welche Werte sie vertreten, werden am Markt verlieren. Im Moment lässt sich das gut an Apple und Sony beobachten.

Sony, ursprünglich in der Unterhaltungselektronik führend, fällt permanent zurück, weil nach außen hin nicht erkennbar ist, für welche Sache sie stehen. Sie sind völlig indifferent geworden. Apple hat es geschafft, die eigene Identität zu behalten. Ob sie die Musikbranche, die Telekombranche oder die Unterhaltungselektronikbranche angegriffen haben – es war immer eindeutig Apple. Apple fuhr und fährt einen definierten Kurs, der klar und deutlich lesbar und zu erkennen ist. Diese klare Linie äußert sich nach außen durch den Slogan „Think Different“. Bei Apple akzeptiert man die konventionellen Branchen-Spielregeln nicht, sondern überlegt: „Was wollen wir eigentlich und wie können wir dieses Ziel möglichst anders erreichen?“ Das ist ein ganz einfacher, aber sehr, sehr klarer Werteansatz, der ihr Handeln bestimmt – unabhängig davon, welche Produktionskategorien sie gerade angehen. Man kann sich beispielsweise gut vorstellen, dass Apple in Zukunft auch E-Mobility anbieten könnte.

Apple macht also wieder einmal alles richtig?

Apple hat perfekt verstanden, Emotional Design zu machen. Und sehr, sehr langsam sind sie dabei, Trust Design zu machen. Sowohl was die Arbeitsverhältnisse wie auch Umweltbelastungen angeht, hat Apple nachgezogen. Das Unternehmen ist jedoch in die nächste „Wertefalle“ getreten, als es darum ging, wie man mit Speicherung und Nutzung von privaten Daten umgeht.

Alle Unternehmen sind gezwungen, solche Dinge zu erklären, die technisch nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Aber welche Haltung entwickeln wir dazu? Wir haben Kenntnisse von Menschen, die sie uns anvertrauen, ohne es zu wissen. Warum sagen wir nicht, dass wir diese Daten brauchen und dass wir diese Daten ernst nehmen und schätzen? Facebook hat im Moment ein Geschäftsmodell, dessen Grundlage private Daten sind. Sie gehen damit nicht nur nachlässig, sondern bewusst täuschend um. Die Frage ist, wann sich das dem Unternehmen gegenüber rächt.

Dass der Mensch mehr Facetten hat als ein Konsument, lässt sich auch auf die Facette des Mitarbeiters ummünzen. Inwiefern ist die Vertrauensfrage auch gegenüber den Mitarbeitern relevant?

Die Autonomie der Mitarbeiter ist stark gewachsen. Daher werden gelebte Unternehmenswerte auch intern als gemeinsamer Handlungsrahmen immer wichtiger. Durch die Auflösung der Arbeitsteiligkeit und die hohe Selbständigkeit im Arbeitsprozess muss ein Quellcode vorgegeben sein, der dem einzelnen Mitarbeiter ermöglicht, spontan und flexibel selber zu entscheiden, aber innerhalb einer Konstante, der dem Sinn und Wohl der Firma entspricht.

Wer seinen Mitarbeitern signalisiert, ihnen nicht zu vertrauen – indem z. B. der Zugang zum Internet beschränkt wird –, muss davon ausgehen, dass auch die Mitarbeiter dem Unternehmen nicht vertrauen und so nicht selbständig arbeiten können. 66% der Mitarbeiter, die nach 1980 geboren sind, ignorieren die IT-Sicherheitsrichtlinien ihrer Unternehmen. Insofern sind Vertrauen und das Gestalten von Vertrauen über gemeinsam geteilte Werte ganz zentral.

Was wäre ein erster Schritt für Unternehmen in Werte-Logiken zu denken?

Werte sind ja nichts anderes als die Beschreibung von Haltungs- und Handlungsideen. Sie sind ein Algorithmus von Denkabfolgen, die aber immer wieder neu interpretiert werden. Sehen wir uns als Beispiel den Wert Freiheit an. Viele Unternehmen behaupten, die persönliche Freiheit ihrer Kunden zu vergrößern. Das kann über Technologien oder anders geschehen. Der Wert Freiheit war früher mit Aufbruch und dem Zuwenden anderer geografischer Regionen oder Kulturen verbunden. Im Moment – das war auch das Ergebnis des Werte-Index 2009 – wird der Zugang zu virtuellen Welten damit verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Freiheit in Zukunft bedeutet, sich aufgehoben zu fühlen und in sozialen Dimensionen gedacht wird, ist nicht ganz utopisch.

Für Unternehmen gilt es daher, für eine bestimmte Sache zu stehen, aber die Begrifflichkeiten immer wieder neu zu interpretieren. Um mit den Kunden in Verbindung zu bleiben, gilt es, herauszufinden, was sie unter bestimmten Wertebegriffen verstehen. Dann bilden Werte eine Konstante, die es erst ermöglicht, Flexibilität zu leben, ohne sich zu verbiegen.

Mobile Netzwerkmedien ändern die Gesellschaft radikal

Persönlich sind wir schlau. Klüger als Institutionen, Unternehmen und der Staat. Wir passen uns individuell den veränderten Umweltbedingungen schneller und besser an, als es Wirtschaft und Politik gelingen. Deshalb macht es Sinn, den Strukturwandel von der Industriekultur zur Netzwerkökonomie auch aus der sozialen und kulturellen Perspektive zu betrachten und nicht allein aus der Sicht der Technologie und Ökonomie. Menschen, nicht Organisationen, entwickeln die Spielregeln der Netzwerkgesellschaft. Wer sich diesen Standpunkt zu eigen macht, gewinnt mehr Lebensqualität. Geschäftlich entstehen ungeahnte Möglichkeiten auf neuen Märkten.

Unternehmen und staatliche Organe können aus dem Verhalten von uns als Bürgern und Konsumenten lernen. Wir reagieren auf Innovationen technologisch und ökonomisch als Radikale, bleiben aber sozial und kulturell gern Konservative. Das Neue der Innovationen kompensieren wir durch Kultur. Wir entscheiden emotional, nicht rational. Alles, was verschwindet, gewinnt für uns an Wert. Einfachheit, Vertrauen und Freundschaft haben in einer komplexen, dynamischen und virtuellen Welt Hochkonjunktur.

Trends kann man nicht machen, sie entstehen, wenn Innovationen auf ein kulturelles Bedürfnis treffen. Der Verlust räumlicher und sozialer Nähe in der realen Welt ist zum Problem geworden. Europas Single-Hauptstadt ist Regensburg, hier leben 55,8 Prozent der Bevölkerung in Ein-Personen-Haushalten. In Berlin sind es 54,3 Prozent, die allein leben. Nicht immer, aber immer wieder. Die Suche nach neuen zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein ständig wachsendes Bedürfnis. So erklärt sich auch der Siegeszug von sozialen Netzwerken wie Facebook. Es ist nicht die Bewunderung für leistungsfähigere Programme oder schnellere Rechner, sondern die Nützlichkeit ihrer Anwendung, die sie so erfolgreich macht.

Die Individualisierung löst soziale Bindungen auf, und virtuelle Netzwerke bieten Ersatz an. Freunde ersetzen die Familie. Viele schwache Bindungen, so die Sehnsucht, sollen die wenigen starken Bindungen, wie die der traditionellen Familie, kompensieren. Die Lösung des Problems war der Social Graph, ein mathematisches Konzept, das menschliche Beziehungen kalkulierbar machte. Diesen Algorithmus zu programmieren war die entscheidende Leistung von Mark Zuckerberg, dem Gründer von Facebook. Sein Unternehmen wurde 2004 als Webpage für das Erstellen und Betreiben von Netzwerken gestartet. Bereits im April 2011 waren bei Facebook 664 Millionen Menschen weltweit registriert – Tendenz steigend.

Soziale Plattformen im Web 2.0 sind keine klassischen Medien, sie bieten Technologie an, keine Inhalte. Es sind die Nutzer selbst, die hier zu Medienschaffenden werden. Sie erzählen über sich und andere. Ihr digitaler Selbstdarstellungsdrang schafft eine Datenbasis, um Freundschaften zu kalkulieren. So werden soziale Beziehungen zum Programm. Selbstbestimmte digitale Identitäten und permanente Fernanwesenheit in Netzwerken versprechen die Gegensätze von emotionaler Geborgenheit und individueller Freiheit zu versöhnen. Mediales Kraulen gewinnt an Bedeutung. Das Selbstmarketing wird populär.

40 Millionen Deutsche nutzten im Mai 2011 durchschnittlich 2,4 Online-Communities aktiv und vernetzten sich im Durchschnitt mit 133 Freunden. Dabei hat die Entwicklung der sozialen Netzwerke erst begonnen. Schon zeichnet sich ab, dass es vor allem wichtig ist, im richtigen sozialen Netzwerk zu sein. Die Statusfrage wird neu gestellt. Kann ich mir noch erlauben, bei Facebook zu sein, oder bietet Xing, das „Social Network for Professionals“, ein soziales Upgrade? Ist die globale Aura bei LinkedIn, dem „World’s Largest Professional Network“, nicht am besten? Sehnsüchte bestimmen die Akzeptanz von Innovationen.

Der Deal zwischen Teilnehmern und Betreibern sozialer Mediennetzwerke ist die kostenlose Nutzung bei Übereignung der Daten. Die Privatsphäre wird zum handelbaren Gut. Dieser Umstand ist vielen deutschen Community-Mitgliedern nicht bewusst, denn die Privatsphäre ist in Deutschland ein Bürgerrecht. Das Internet aber ist global und unterliegt nicht automatisch der heimatlichen Gesetzgebung. In den USA ist die Informationsfreiheit wichtiger als der Schutz der Privatsphäre, damit sind Probleme programmiert, denn die meisten der Internetunternehmen haben ihren Sitz in den USA. Nationale ordnungspolitische Maßnahmen sind begrenzt. Wer den Staat zu Hilfe rufen will, muss Eingriffe in die Informationsfreiheit befürworten. In autoritären Ländern, wie China, Nordkorea oder Iran, ist das eine alltägliche abschreckende Praxis. Die Selbstkontrolle der Nutzer und Anbieter statt der Systemkontrolle durch die Regierungen ist die Lösung.

In der Alltagskultur kann man beobachten, wie die neuen, mobilen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets leidenschaftlich schnell genutzt werden. Der Absatz von Smartphones und Tablet-Computern übertrifft alle Erwartungen der Experten. Bereits für 2014 prognostiziert die Unternehmensberatung McKinsey, dass die Zahl der mobilen Internetnutzer die der Desktopnutzer weltweit überholen wird. Es sind die Nutzer, die die Alltagstauglichkeit der neuen Geräte testen. Sie machen sich gegenseitig auf die technologischen Kinderkrankheiten aufmerksam. Sie diskutieren engagiert die kulturellen Gefahren. Sie lernen schnell den Umgang mit den eigenen neuen, virtuellen Identitäten. Während die traditionellen Massenmedien die Gefahren des Internets beschwören, finden Nutzer angemessene Lösungen.

Sie machen ihre eigenen Daten entweder zur geldwerten Ressource, oder sie kaufen ihre Privatsphäre zurück. Als Konsumenten tauschen sie ihre persönlichen Daten gegen virtuelle Dienstleistungen, wie es bei Google, Facebook, Foursquare oder Groupon bereits der Fall ist. Verschlüsselungsprogramme, die durch Kryptografie Nutzerdateien unlesbar machen, und Identitätsdienstleister, die das Löschen von Daten im Netz privat organisieren, sind populär. Die wirkungsvollste Waffe gegen die private Übervorteilung im Internet sind die spontanen gemeinsamen Aktionen. Bei Verletzung ihrer Interessen organisieren Bürger und Konsumenten spontane Demonstrationen im Internet. Eine bisher unbekannte, neue Konsumentenmacht entsteht.

Schnelle massenhafte Onlineproteste, Smartmobs, zwingen Unternehmen und Regierungen, kurzfristig ihre Vorhaben zu ändern. „Bestrafe einen – erziehe Hunderte“ ist hier das Motto der apodiktischen Empörung. Projektarbeit und Pragmatismus zählen.

Wer das ignoriert, verliert an ökonomischer oder politischer Bedeutung. Die soziale Revolution, die Howard Rheingold in seinem Buch „Smart Mobs“ bereits 2002 angekündigt hatte, gewinnt zunehmend an Einfluss. Ob Apple oder Sony, Ägypten oder Stuttgart 21, Unternehmen oder Staat, Datenklau oder Machtmissbrauch, die spontanen Zusammenschlüsse von Konsumenten und Bürgern sind ein realer Machtfaktor der Konsumentendemokratie geworden.

Organisationen, die das unterschätzen, verlieren in einer Krise die Möglichkeit, den Meinungsbildungsprozess zu beeinflussen. Die asymmetrische Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Konsumenten sowie Politik und Wirtschaft entsteht vor allem durch Schnelligkeit und Emotionalität. Es ist eine Tatsache, das nationale Grenzen kaum eine Rolle spielen, da Konflikte durch das Internet global und in Echtzeit ausgetragen werden. Es sind vor allem die weltweit agierenden Konzerne, die in dieser Situation an ihre bisherigen Verfahrensweisen scheitern. Sie haben noch nicht gelernt, schnell zu antworten. Zentral organisierte Ländergesellschaften, die mit ihrer „One Voice Policy“ informieren wollen, scheitern. Im Web 2.0 sind sie mit einer weltweiten freien Meinungsäußerung konfrontiert. Die internationale Koordination in den Unternehmen muss zukünftig mit der Geschwindigkeit der öffentlichen Diskussion im Internet mithalten. 

Twitter, Facebook und YouTube sind wirkungsvolle Werkzeuge geworden. Wie effektiv sie sind, hat auch das amerikanische Außenministerium erkannt. 5.000 digitale Aktivisten wurden bereits weltweit ausgebildet, um die politischen Möglichkeiten des Web 2.0 für Freiheitsbewegungen zu nutzen. Das Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ berichtete, dass im ersten Halbjahr 2011 vom amerikanischen Senat 50 Millionen US-Dollar dafür eingeplant wurden. Die Aufgabe der Protest-Blogger wird es sein, die persönliche Freiheit in autoritären Staaten, wie Tunesien, Ägypten und Syrien, medial zu fördern und organisatorisch zu stärken. Das Programm entspricht der konsequenten Weiterentwicklung der amerikanischen Freiheitssender des Kalten Krieges, wie Radio Free Europa oder Voice of Amerika. Interessant ist hier der Strukturwechsel: Gestern war es das zentrale offizielle Programm, das über ein Massenmedium, wie Radio oder Fernsehen, verbreitet wurde. Heute sind es die dezentralen individuellen Beiträge, die über vernetzte Personal-Media-Geräte, wie Handys, Smartphones, Notebooks oder Tablet-Computer, ausgetauscht werden und Gesellschaftssysteme zum Wanken bringen.

Das Web 2.0 ist kein zusätzlicher Medienkanal. Hier sind es die Aktivisten, die den Meinungsbildungsprozess steuern. Das amerikanische Bureau of Democracy, Human Rights and Labor spricht dann auch bewusst von „an underground railroad of trust“. Gemeinsame Werte sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunikation. Wer sich nicht daran hält, wird nicht abgemahnt, sondern ausgeschlossen. Diese einfache Regel gilt nicht nur in der Politik, sondern auch für Unternehmen. So lohnt sich noch einmal der Blick auf die amerikanische Außenpolitik. Die Sicherheit zuerst: Es wurde ein „panic button“ als App für die Protest-Blogger entwickelt, die es den Nutzern von mobilen Computern und Smartphones ermöglicht, bei Gefahr jederzeit ihre Daten zu löschen. Gleichzeitig wird ein digitaler Hilferuf per SMS an Freunde versendet.

Netzwerkmedien ändern die Gesellschaft radikal. Es ist nicht die Technologie, sondern die Kultur ihrer Nutzung, die unsere Welt verändert. Der mächtigste Mann der Welt verlor die Nachrichtenhoheit an Social Media. Als US-Päsident Barack Obama die amerikanische Nation über den Todesschlag gegen Osama Bin Laden informieren wollte, waren Twitter und Facebook schneller gewesen. So hatte der Büroleiter von Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld im Netz Gerüchte angeheizt, und ein pakistanischer Blogger twitterte den Angriff sogar live vor Ort. Der Blogger Sohaib Athar schrieb bei Twitter über Gewehrschüsse im pakistanischen Gebirge. Ohne zu ahnen, dass es sich um den Angriff der US-Streitkräfte auf Bin Laden handelte. Als er es realisierte, twitterte er „Uh oh, now I’m the guy who liveblogged the Osama raid without knowing it“. Personalisierte Kommunikation „7/24“ bestimmt die Informationskaskaden der traditionellen Massenmedien. Dabei gewinnt die mediale Macht der Bürger und Konsumenten.

Peter Wippermann

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Return on Influence

Spontane Macht für Bürger und Konsumenten
Auf den Informationsmärkten herrscht ein harter Verdrängungswettbewerb. Die analogen Massenmedien differenzieren sich immer weiter aus: Noch mehr Magazine, noch mehr Fernsehkanäle und noch mehr Radioprogramme sind die Folge. Ein Information-Overload ist die Konsequenz und wird zum Problem. Nicht nur für Menschen, sondern auch für Unternehmen und Organisationen. Der Tag hat nach wie vor 24 Stunden. Selbst das wohlwollendste Multitasking kann die Informationsflut nicht eindämmen. Für Unternehmen aber ist es ökonomisch sinnlos, die Werbeetats grenzenlos zu erhöhen, um der explosionsartigen Zersplitterung der Medienkanäle zu folgen. Die Steigerungslogik des Werbedrucks hört bei „360-Grad-Multichannel-24/7-Strategien“ auf. Informationen kann man beliebig vermehren, Aufmerksamkeit leider nicht.

Wer allein den „Return of Investment“ der Marketingetats kontrollieren will, übersieht dabei leicht den Strukturwechsel. In der Industriekultur sprachen Produzenten direkt zu den Mitarbeitern, Zulieferern, Vertriebspartnern und meist bloß indirekt zu den Konsumenten und Aktionären. Die direkten Beziehungen zu den Endkunden und Anlegern knüpften in der Regel nur die Händler oder Analysten. Unter Internetbedingungen kann sich jeder mit jedem austauschen. Aus den getrennten Kommunikationssphären von Business-to-Business (B-to-B) und Business-to-Consumer (B-to-C) wird zusehends eine Kommunikation unter Gleichen: Peer-to-Peer (P-to-P). Märkte sind Gespräche – das wird zum Selbstverständnis der Netzwerkökonomie. Diese Tatsache verändert die etablierten Machtstrukturen.

Nimmt man diesen Machtwechsel ernst, erkennt man, wie wichtig es ist, mitreden zu können und durch gemeinsame Kommunikation den Einfluss auf die Community zu steigern. So macht es durchaus Sinn, die finanzielle Skalierbarkeit des „Return of Investment“ aufzugeben und stattdessen den sozialen Maßstab „Return on Influence“ als Erfolgsfaktor in der Meinungsbildung zu anzusehen. Das neue „Währungssystem“ ersetzt Monologe durch Dialoge. Nicht, was ich versende, sondern, wie geantwortet wird, entscheidet. Das ist weniger eine Frage von Marktdominanz oder Bekanntheit, sondern mehr eine von Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Vertrauen kann man nicht kaufen oder erzwingen, man bekommt es geschenkt.

Anerkennung setzt gemeinsame geteilte Werte voraus
Durch das Web 2.0 mit seiner Informationssymmetrie (Share-Technologie) haben Bürger und Konsumenten medial aufgerüstet. Das Internet vergrößert nicht nur ihren Konsum von Medien, sondern ermöglicht ihnen auch eine eigene Produktion von Medien. Seit 2003 kann man im Web 2.0 eigene Inhalte erstellen, bearbeiten und verteilen. Das persönliche Publizieren wird seitdem unterstützt von expressiven Medien, wie Blogs, Twitter, Facebook, Flickr und YouTube, oder kollaborativen Medien, wie Wikis und Wikipedia. Die Nutzer der Medien sind nicht mehr passiv, sondern aktiv. Sie sind nicht mehr unwissend, sondern gut informiert. Sie sind nicht mehr isoliert, sondern können sich jederzeit zu großen virtuellen Schwärmen verbinden. Dadurch gewinnen sie mehr gesellschaftliche Macht.

Agenda-Setting war schon immer eine Voraussetzung für Macht. Durch Agenda-Setting versteht jeder die Situation, und alle wissen, dass es die anderen auch wissen. Die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken war bisher das Privileg der Massenmedien. Sie hatten zwar keinen großen Einfluss auf das, was das Publikum zu einem Thema denkt, aber erheblichen Einfluss darauf, worüber es sich Gedanken macht. Über das Web 2.0 ist es nun auch für Einzelne möglich geworden, Themen vorzuschlagen und die Diskussion über sie hochzuschaukeln. Die authentische Stimme eines Mitglieds der eigenen Community genießt bei Internetnutzern mehr Vertrauen als die veröffentlichte Meinung der Massenmedien. Mitreden zu können schafft Anerkennung. So wird im Internet Mundpropaganda zur öffentlichen Tatsache.

Man muss heute nicht mehr Mitglied in einer Organisation sein, um kollektive Interessen wirkungsvoll umzusetzen. Bisher waren disziplinierte und koordinierte Gruppen, wie Parteien, Verbände oder NGOs, effektiver darin, ihre Anliegen in der Gesellschaft zu vertreten, als lose agierende Gruppen. Soziale Netzwerke, wie Facebook, machen jetzt gemeinsame Aktionen ohne Aufwand jederzeit realistisch. Durch das Web 2.0 fallen die Kosten für die Koordination von Aktionen auf ein Minimum. Für große Gemeinschaften mit schwachen Bindungen untereinander ist es möglich geworden, sich schnell in Zeit und Raum zu koordinieren. Flash-Mobs, spontane, aber organisierte Massenveranstaltungen, haben längst die alternativen Nischen der Subkultur verlassen. Ob es der bürgerliche Zorn „Stuttgart 21“ gegen das Großprojekt des Bahnhofsumbaus in der baden-württembergischen Landeshauptstadt war oder die politischen Rebellionen der Jugend in Ägypten, Tunesien und Libyen im Februar 2011. Die neue Organisationsform der spontanen Mehrheiten trifft dabei nicht nur die Politiker, sondern auch die Würdenträger der Kirchen wie die Verantwortlichen der Unternehmen. Flash-Mobs sind die Organisationsformen unzufriedener Bürger und Konsumenten.

Spontane Macht für Bürger und Konsumenten
Ein Machtbeben hat begonnen. Wikileaks ist nur der Anfang einer permanenten Einmischung einzelner Organisationen in die staatliche Immunität. Wikileaks hat sich zum Ziel gesetzt, geheim gehaltene Dokumente allgemein verfügbar zu machen. Die von der Whistleblower-Plattform ins Netz gestellten Vertraulichkeiten der Politik haben auch den medialen Einfluss der klassischen Leitmedien, wie Fernsehen, Radio, Zeitungen und Magazine, geschwächt. Ausgesuchten Massenmedien wurde angeboten, die Materialien in den analogen Medien der Tageszeitungen und Magazine zu verbreiten. Online informiert Offline. „Heute, im Internetzeitalter, verschiebt sich die Macht von denen, die Geheimnisse haben, zu denen, die Öffentlichkeit herstellen.“ So der Internetanalytiker Jeff Jarvis, Professor an der Graduate School of Journalism, New York. Das Machtgefälle verschiebt sich aber auch von den wenigen professionellen Berichterstattern hin zu einer offenen Mehrheit jederzeit gut informierter Bürger und Konsumenten. Eins ist sicher: Der Druck auf die Politik und die Unternehmen wird weiter steigen. Diese werden ihre Entscheidungen moralisch und fachlich transparent halten müssen. Die Bürger und Konsumenten werden deren Handeln, aber auch deren Weltbild jederzeit im Detail überprüfen.

Der amerikanische Autor und Berater für neue Medien, Clay Shirky, beschreibt in seinem Essay „The Political Power of Social Media“ den aktuellen medialen Machtwechsel mit dem Dilemma der Diktatoren: „Regierungen können versuchen, auf unliebsame Demonstrationen mit Propaganda und im schlimmsten Fall mit Zensur zu reagieren. Unternehmen können ihre Marketingkommunikation von Werbung bis PR einsetzen und im härtesten Fall mit dem Anwalt agieren. Unter den Bedingungen der Massenmedien wurde vertikal informiert, egal ob Nachrichten, Unterhaltung oder Werbung. Durch das Web 2.0 wird die Aufmerksamkeit geteilt und vernetzt sich horizontal.“ Man begegnet sich auf Augenhöhe. „Macht über“ verliert, „Macht zu“ gewinnt.

Prof. Peter Wippermann