Prof. Peter Wippermann "Der nervöse Konsument"

Peter Wippermann, Gründer des Trendbüros, beschreibt in seinem Beitrag den Einfluß des Flow auf das Konsumverhalten von Individuen. Konsum unterliegt nicht nur rationalen Parametern, sondern wird ebenso durch Emotionen geprägt. In Zeiten der Krise, in denen scheinbar nur Unmut und Stress zu verzeichnen sind, entdeckt Peter Wippermann ein neues Selbstbewusstsein der Konsumenten. Die nächsten Jahre werden geprägt sein von einer sich rasch beschleunigenden, dynamischen und flexiblen Umwelt und ihren Herausforderungen für Konsumenten und Unternehmen 

Ungewissheit ist nicht nur in Deutschland und Europa, sondern global ein Lebensgefühl geworden. Handeln in Ungewissheit ist nicht mehr auf die Börse beschränkt. Wir alle treffen unsere Entscheidung in objektiver Ungewissheit. Die Gewissheit der Ungewissheit ist Normalität. Die Gesellschaft kann sich leider nicht entspannt auf die mit der Zukunft verbundene Ungewissheit einstellen. Sie muss sich hingegen flexibel für mögliche Überraschungen wappnen. Entscheidungssituationen nötigen dazu, nach Alternativen zu suchen.

Wir handeln unter dieser Bedingung und brauchen eine Einstellung dazu. Oscar Wilde hatte eine solche Einstellung, als er sagte: „Das Wesen der Romantik ist die Ungewissheit.“ So gelassen sehen es nicht alle.

Die Krise bringt das Weltbild ins Wanken

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise hat auch zahlreiche Berufsstände in tiefe Zweifel gestürzt: Wirtschaftsweise, Analysten, Journalisten, Politiker und sonstige Symbolanalytiker haben diese Krise nicht kommen sehen. Zaghaft setzt sich die Gewissheit durch, dass der Neoliberalismus und die zügellose Deregulierung von Finanzmärkten und Lebensverhältnissen zu dieser Krise beigetragen haben könnten. Warum fällt das Weltbild des nach dem Zusammenbruch des Kommunismus so siegreichen Kapitalismus nun zusammen wie ein Soufflé beim Öffnen der Ofentür?

Die herkömmliche Wirtschaftstheorie lehrt, dass freie Märkte in ihrem Kern vollkommen und stabil sind. Nach diesem Denkmodell sind staatliche Eingriffe schädlich. Wenn Menschen rational handelten und ihre eigennützigen ökonomischen Ziele verfolgten, dann würden sie im Rahmen einer Wirtschaft mit vollkommenen Märkten sämtliche wechselseitig vorteilhaften Gelegenheiten zur Produktion und zum Tausch von Gütern nutzen. Tun sie aber nicht. Denn diese Theorie von Adam Smith lässt außer Acht, dass Menschen sich genauso von nichtökonomischen Motiven leiten lassen, dass sie auch irrational handeln und falschen Vorstellungen folgen. Kurz gesagt, die Menschen folgen auch ihren „animal spirits“ (Akerlof/Shiller) und sorgen damit für Widersprüchlichkeit, Mehrdeutigkeit und Ungewissheit auf den Märkten. Im Mittelpunkt ihres Handelns stehen dabei Vertrauen, die Sehnsucht nach Fairness, aber manchmal auch die Neigung zu korruptem Verhalten und die Angewohnheit, Realitäten durch die Brille der eigenen subjektiven Lebenswirklichkeit und Lebensgeschichte zu sehen.

Bezieht man die „animal spirits“ in die Ökonomie mit ein, lassen sich die Wirtschaft und ihre Krisen besser erklären. Gleichzeitig führt die Abkehr vom alleinigen Unternehmensziel des Shareholder-Value und vom Menschenbild des rein rationalen Homo oeconomicus dazu, den Menschen als Mitarbeiter und Kunden besser kennenzulernen.

Nervosität: zwischen Flucht und Angriff

Menschen reagieren auf emotionale Reize. Emotionen sind zentralnervöse Erregungsmuster und daher grundlegende menschliche Antriebskräfte. Diese Spannung ist es, die den Mensch aktiviert, den Organismus mit Energie versorgt und ihn in einen Zustand der Leistungsbereitschaft versetzt. Allerdings ergibt sich aus den zentralnervösen Erregungsmustern noch keine konkrete Handlungsausrichtung.

Wir leben in einem Zustand, der in der Instinkttheorie Appetenz genannt wird. Ein Such- und Orientierungsverhalten, das der Handlungsbereitschaft vorausgeht: Wir wittern Gefahr oder Beute. Wir stehen vor der Entscheidung “Flucht oder Angriff.“ Der Alltag liefert viele Beispiele.

o     Die Euro-Krise macht Aktionäre nervös. Wegen der Gefahren oder wegen der Chancen?

o     Die Mittelschicht in den Großstädten reagiert nervös auf Schulreformen. Ist es Statuspanik oder die Suche nach den besten Chancen für die eigenen Kinder?

Auf der gesellschaftlichen Ebene können gerade in Krisensituationen große nervöse Spannungen entstehen, die oft mit einer Art psychischen Müdigkeit der Gesellschaft einhergehen (Entpolitisierung, Rückgang des bürgerlichen Engagements, Reduktion auf Konsum). Angesichts einer solchen Nervosität kann eine Abwärtsspirale in Gang kommen. Stagnierende Märkte führen zu nervösen, verunsicherten Konsumenten.

Nervosität muss nicht nur negativ sein. Sie erhöht unsere Wahrnehmung. Nervosität ist nicht einfach eine Verringerung der Gelassenheit, sondern oft eine produktive Spannungssituation. Manche Menschen geraten schnell unter Druck, andere werden unter Druck zu Multitasking-Talenten. Es gibt auch eine Nervosität der Lebendigkeit und Kreativität. Momente von Panik und Hysterie waren immer schon Motor der Avantgarde.

Der Soziologe Georg Simmel spricht von den unruhigen Klassen. Er beschreibt einen neuen Typus des Konsumenten: „Unruhige, nach Abwechselung drängende Klassen und Individuen finden in der Mode, der Wechsel- und Gegensatzform des Lebens, das Tempo ihrer eigenen psychischen Bewegung wieder.“ Simmel fügt hinzu, dass „die heutigen Moden lange nicht so extravagant und kostspielig sind wie die früherer Jahrhunderte“ und dass die Moden angesichts der Verbilligung vieler Waren eine „viel kürzere Lebensdauer haben“. Simmel beschreibt hier die Grundfigur eines Distinktionsprozesses – die Entwertung von „vorn“, das Nachrücken der „Massen“ und die Fluchtbewegung der „Avantgarde“.

Die Wirtschaft hat es heute mit einem immer rastloseren Publikum zu tun. Immer mehr Menschen weisen ein Multitasking-Konsumverhalten auf. Heute nutzen viele Fernsehen und Internet zur selben Zeit. Nicht nur für Programmmacher dürfte das ruhelose Nutzungsverhalten wenig erfreulich sein. Man findet es auch beim Konsum anderer Dinge.

Die Veränderung ist jedoch nicht einfach nur auf Stress und Unruhe zurückzuführen. Sie hat mit einem neuen selbstbewussten Selbstbild der Konsumenten zu tun, die die neuen Möglichkeiten als Freiheit von Bevormundung empfinden. Die Konsumenten sind ratloser, wie sie gleichzeitig selbstbewusster sind. Sie verweigern den Produktkauf bei nerviger Werbung. Ihre Geduld mit Online-Shops ist stark begrenzt. Andererseits verbringen sie viel Zeit dort, wo sie eine soziale Belohnung erwarten: Social Networks finden weltweit immer mehr Anklang. Und das Internet wird zunehmend vom Handy aus genutzt.

Die Wirtschaft muss sich auf den nervösen Verbraucher (und Mitarbeiter) einstellen. Seine Unruhe hat ebenso mit Stress zu tun wie mit seinem neuen Selbstbewusstsein und Lebensgefühl: dem Flow.Control.

Die nächsten Jahre werden geprägt sein von einer sich rasch beschleunigenden, dynamischen und flexiblen Umwelt und ihren Herausforderungen für Konsumenten und Unternehmen. Der Megatrend heißt „Flow.Control. Selbstbestimmung statt Systemkontrolle“ und wird das Thema des 15. Deutschen Trendtages sein. Sie sind herzlich eingeladen, die aktuelle Diskussion auf dem Trendtag-Blog  zu verfolgen und zu kommentieren.