Persönlich sind wir schlau. Klüger als Institutionen, Unternehmen und der Staat. Wir passen uns individuell den veränderten Umweltbedingungen schneller und besser an, als es Wirtschaft und Politik gelingen. Deshalb macht es Sinn, den Strukturwandel von der Industriekultur zur Netzwerkökonomie auch aus der sozialen und kulturellen Perspektive zu betrachten und nicht allein aus der Sicht der Technologie und Ökonomie. Menschen, nicht Organisationen, entwickeln die Spielregeln der Netzwerkgesellschaft. Wer sich diesen Standpunkt zu eigen macht, gewinnt mehr Lebensqualität. Geschäftlich entstehen ungeahnte Möglichkeiten auf neuen Märkten.
Unternehmen und staatliche Organe können aus dem Verhalten von uns als Bürgern und Konsumenten lernen. Wir reagieren auf Innovationen technologisch und ökonomisch als Radikale, bleiben aber sozial und kulturell gern Konservative. Das Neue der Innovationen kompensieren wir durch Kultur. Wir entscheiden emotional, nicht rational. Alles, was verschwindet, gewinnt für uns an Wert. Einfachheit, Vertrauen und Freundschaft haben in einer komplexen, dynamischen und virtuellen Welt Hochkonjunktur.
Trends kann man nicht machen, sie entstehen, wenn Innovationen auf ein kulturelles Bedürfnis treffen. Der Verlust räumlicher und sozialer Nähe in der realen Welt ist zum Problem geworden. Europas Single-Hauptstadt ist Regensburg, hier leben 55,8 Prozent der Bevölkerung in Ein-Personen-Haushalten. In Berlin sind es 54,3 Prozent, die allein leben. Nicht immer, aber immer wieder. Die Suche nach neuen zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein ständig wachsendes Bedürfnis. So erklärt sich auch der Siegeszug von sozialen Netzwerken wie Facebook. Es ist nicht die Bewunderung für leistungsfähigere Programme oder schnellere Rechner, sondern die Nützlichkeit ihrer Anwendung, die sie so erfolgreich macht.
Die Individualisierung löst soziale Bindungen auf, und virtuelle Netzwerke bieten Ersatz an. Freunde ersetzen die Familie. Viele schwache Bindungen, so die Sehnsucht, sollen die wenigen starken Bindungen, wie die der traditionellen Familie, kompensieren. Die Lösung des Problems war der Social Graph, ein mathematisches Konzept, das menschliche Beziehungen kalkulierbar machte. Diesen Algorithmus zu programmieren war die entscheidende Leistung von Mark Zuckerberg, dem Gründer von Facebook. Sein Unternehmen wurde 2004 als Webpage für das Erstellen und Betreiben von Netzwerken gestartet. Bereits im April 2011 waren bei Facebook 664 Millionen Menschen weltweit registriert – Tendenz steigend.
Soziale Plattformen im Web 2.0 sind keine klassischen Medien, sie bieten Technologie an, keine Inhalte. Es sind die Nutzer selbst, die hier zu Medienschaffenden werden. Sie erzählen über sich und andere. Ihr digitaler Selbstdarstellungsdrang schafft eine Datenbasis, um Freundschaften zu kalkulieren. So werden soziale Beziehungen zum Programm. Selbstbestimmte digitale Identitäten und permanente Fernanwesenheit in Netzwerken versprechen die Gegensätze von emotionaler Geborgenheit und individueller Freiheit zu versöhnen. Mediales Kraulen gewinnt an Bedeutung. Das Selbstmarketing wird populär.
40 Millionen Deutsche nutzten im Mai 2011 durchschnittlich 2,4 Online-Communities aktiv und vernetzten sich im Durchschnitt mit 133 Freunden. Dabei hat die Entwicklung der sozialen Netzwerke erst begonnen. Schon zeichnet sich ab, dass es vor allem wichtig ist, im richtigen sozialen Netzwerk zu sein. Die Statusfrage wird neu gestellt. Kann ich mir noch erlauben, bei Facebook zu sein, oder bietet Xing, das „Social Network for Professionals“, ein soziales Upgrade? Ist die globale Aura bei LinkedIn, dem „World’s Largest Professional Network“, nicht am besten? Sehnsüchte bestimmen die Akzeptanz von Innovationen.
Der Deal zwischen Teilnehmern und Betreibern sozialer Mediennetzwerke ist die kostenlose Nutzung bei Übereignung der Daten. Die Privatsphäre wird zum handelbaren Gut. Dieser Umstand ist vielen deutschen Community-Mitgliedern nicht bewusst, denn die Privatsphäre ist in Deutschland ein Bürgerrecht. Das Internet aber ist global und unterliegt nicht automatisch der heimatlichen Gesetzgebung. In den USA ist die Informationsfreiheit wichtiger als der Schutz der Privatsphäre, damit sind Probleme programmiert, denn die meisten der Internetunternehmen haben ihren Sitz in den USA. Nationale ordnungspolitische Maßnahmen sind begrenzt. Wer den Staat zu Hilfe rufen will, muss Eingriffe in die Informationsfreiheit befürworten. In autoritären Ländern, wie China, Nordkorea oder Iran, ist das eine alltägliche abschreckende Praxis. Die Selbstkontrolle der Nutzer und Anbieter statt der Systemkontrolle durch die Regierungen ist die Lösung.
In der Alltagskultur kann man beobachten, wie die neuen, mobilen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets leidenschaftlich schnell genutzt werden. Der Absatz von Smartphones und Tablet-Computern übertrifft alle Erwartungen der Experten. Bereits für 2014 prognostiziert die Unternehmensberatung McKinsey, dass die Zahl der mobilen Internetnutzer die der Desktopnutzer weltweit überholen wird. Es sind die Nutzer, die die Alltagstauglichkeit der neuen Geräte testen. Sie machen sich gegenseitig auf die technologischen Kinderkrankheiten aufmerksam. Sie diskutieren engagiert die kulturellen Gefahren. Sie lernen schnell den Umgang mit den eigenen neuen, virtuellen Identitäten. Während die traditionellen Massenmedien die Gefahren des Internets beschwören, finden Nutzer angemessene Lösungen.
Sie machen ihre eigenen Daten entweder zur geldwerten Ressource, oder sie kaufen ihre Privatsphäre zurück. Als Konsumenten tauschen sie ihre persönlichen Daten gegen virtuelle Dienstleistungen, wie es bei Google, Facebook, Foursquare oder Groupon bereits der Fall ist. Verschlüsselungsprogramme, die durch Kryptografie Nutzerdateien unlesbar machen, und Identitätsdienstleister, die das Löschen von Daten im Netz privat organisieren, sind populär. Die wirkungsvollste Waffe gegen die private Übervorteilung im Internet sind die spontanen gemeinsamen Aktionen. Bei Verletzung ihrer Interessen organisieren Bürger und Konsumenten spontane Demonstrationen im Internet. Eine bisher unbekannte, neue Konsumentenmacht entsteht.
Schnelle massenhafte Onlineproteste, Smartmobs, zwingen Unternehmen und Regierungen, kurzfristig ihre Vorhaben zu ändern. „Bestrafe einen – erziehe Hunderte“ ist hier das Motto der apodiktischen Empörung. Projektarbeit und Pragmatismus zählen.
Wer das ignoriert, verliert an ökonomischer oder politischer Bedeutung. Die soziale Revolution, die Howard Rheingold in seinem Buch „Smart Mobs“ bereits 2002 angekündigt hatte, gewinnt zunehmend an Einfluss. Ob Apple oder Sony, Ägypten oder Stuttgart 21, Unternehmen oder Staat, Datenklau oder Machtmissbrauch, die spontanen Zusammenschlüsse von Konsumenten und Bürgern sind ein realer Machtfaktor der Konsumentendemokratie geworden.
Organisationen, die das unterschätzen, verlieren in einer Krise die Möglichkeit, den Meinungsbildungsprozess zu beeinflussen. Die asymmetrische Auseinandersetzung zwischen Bürgern und Konsumenten sowie Politik und Wirtschaft entsteht vor allem durch Schnelligkeit und Emotionalität. Es ist eine Tatsache, das nationale Grenzen kaum eine Rolle spielen, da Konflikte durch das Internet global und in Echtzeit ausgetragen werden. Es sind vor allem die weltweit agierenden Konzerne, die in dieser Situation an ihre bisherigen Verfahrensweisen scheitern. Sie haben noch nicht gelernt, schnell zu antworten. Zentral organisierte Ländergesellschaften, die mit ihrer „One Voice Policy“ informieren wollen, scheitern. Im Web 2.0 sind sie mit einer weltweiten freien Meinungsäußerung konfrontiert. Die internationale Koordination in den Unternehmen muss zukünftig mit der Geschwindigkeit der öffentlichen Diskussion im Internet mithalten.
Twitter, Facebook und YouTube sind wirkungsvolle Werkzeuge geworden. Wie effektiv sie sind, hat auch das amerikanische Außenministerium erkannt. 5.000 digitale Aktivisten wurden bereits weltweit ausgebildet, um die politischen Möglichkeiten des Web 2.0 für Freiheitsbewegungen zu nutzen. Das Wirtschaftsmagazin „Bloomberg Businessweek“ berichtete, dass im ersten Halbjahr 2011 vom amerikanischen Senat 50 Millionen US-Dollar dafür eingeplant wurden. Die Aufgabe der Protest-Blogger wird es sein, die persönliche Freiheit in autoritären Staaten, wie Tunesien, Ägypten und Syrien, medial zu fördern und organisatorisch zu stärken. Das Programm entspricht der konsequenten Weiterentwicklung der amerikanischen Freiheitssender des Kalten Krieges, wie Radio Free Europa oder Voice of Amerika. Interessant ist hier der Strukturwechsel: Gestern war es das zentrale offizielle Programm, das über ein Massenmedium, wie Radio oder Fernsehen, verbreitet wurde. Heute sind es die dezentralen individuellen Beiträge, die über vernetzte Personal-Media-Geräte, wie Handys, Smartphones, Notebooks oder Tablet-Computer, ausgetauscht werden und Gesellschaftssysteme zum Wanken bringen.
Das Web 2.0 ist kein zusätzlicher Medienkanal. Hier sind es die Aktivisten, die den Meinungsbildungsprozess steuern. Das amerikanische Bureau of Democracy, Human Rights and Labor spricht dann auch bewusst von „an underground railroad of trust“. Gemeinsame Werte sind Voraussetzung für eine erfolgreiche Kommunikation. Wer sich nicht daran hält, wird nicht abgemahnt, sondern ausgeschlossen. Diese einfache Regel gilt nicht nur in der Politik, sondern auch für Unternehmen. So lohnt sich noch einmal der Blick auf die amerikanische Außenpolitik. Die Sicherheit zuerst: Es wurde ein „panic button“ als App für die Protest-Blogger entwickelt, die es den Nutzern von mobilen Computern und Smartphones ermöglicht, bei Gefahr jederzeit ihre Daten zu löschen. Gleichzeitig wird ein digitaler Hilferuf per SMS an Freunde versendet.
Netzwerkmedien ändern die Gesellschaft radikal. Es ist nicht die Technologie, sondern die Kultur ihrer Nutzung, die unsere Welt verändert. Der mächtigste Mann der Welt verlor die Nachrichtenhoheit an Social Media. Als US-Päsident Barack Obama die amerikanische Nation über den Todesschlag gegen Osama Bin Laden informieren wollte, waren Twitter und Facebook schneller gewesen. So hatte der Büroleiter von Ex-Verteidigungsminister Rumsfeld im Netz Gerüchte angeheizt, und ein pakistanischer Blogger twitterte den Angriff sogar live vor Ort. Der Blogger Sohaib Athar schrieb bei Twitter über Gewehrschüsse im pakistanischen Gebirge. Ohne zu ahnen, dass es sich um den Angriff der US-Streitkräfte auf Bin Laden handelte. Als er es realisierte, twitterte er „Uh oh, now I’m the guy who liveblogged the Osama raid without knowing it“. Personalisierte Kommunikation „7/24“ bestimmt die Informationskaskaden der traditionellen Massenmedien. Dabei gewinnt die mediale Macht der Bürger und Konsumenten.
Peter Wippermann