Rede von Prof. Wippermann anlässlich des 20-jährigen Bestehens von Fleishman-Hillard Germany

Guten Abend, meine Damen und Herren,

wir sind hier, um zu gratulieren. Fleishman-Hillard Germany feiert heute seinen 20. Geburtstag in Deutschland.
Das Fest gibt Anlass zum gemeinsamen Innehalten, denn Feste gliedern unsere Zeit. Deshalb erlauben Sie mir einen kurzen Rückblick, eine Bestandsaufnahme und einen Ausblick.

1991

- Der zweite Golfkrieg wird beendet.
- Das World Wide Web wird zur Benutzung freigegeben.
- Helmuth Kohl wird Bundeskanzler. Auf die Frage „Was halten Sie vom Internet?“ in einem RTL-Fernsehinterview antwortet er später: „Datenautobahn? Fragen Sie meinen Verkehrsminister.“
- In diesem Jahr beginnt Fleishman-Hillard seine Arbeit als strategische Agentur für Kommunikation in Deutschland. Die Niederlassungen Frankfurt, München und Berlin werden gegründet.

2001

- In New York wird der Terroranschlag auf das World Trade Center verübt.
- Das freie Online-Lexikon Wikipedia wird gegründet.
- Klaus Wowereit wird Bürgermeister von Berlin. Mit ihm bekommt die Hauptstadt Deutschlands ein neues Selbstbewusstsein – „Und das ist auch gut so!“, würde er wohl heute noch sagen.
- Bereits zehn Jahre nach seiner Gründung kann Fleishman-Hillard Germany stolz auf erfolgreiche Kommunikationsarbeit zurückblicken.

2011

- Die Arabische Revolution wird durch Facebook und Twitter organisiert.
- Facebook führt die automatische Gesichtserkennung ein.
- Die Bahn beginnt zu twittern und legt ihrem Twitter-Team ein 120-seitiges Handbuch als Betriebsanleitung für Microblogging vor.
- Zu seinem 20. Jubiläum stellt sich Fleischman-Hillard Germany neu auf, um auf die Herausforderungen der kommenden Netzwerkgesellschaft vorbereitet zu sein.

So weit die Geschichte.

Schauen wir in die Gegenwart:

Digital. Integrated. Global.

Das sind die neuen Spielregeln der Kommunikationsarbeit von Fleishman-Hillard.

Digital steht für den Strukturwandel

Die neue Internet-Protokoll-Version 6 wurde letzte Woche erfolgreich getestet. Zukünftig werden 600 Billiarden Internetadressen pro Quadratmillimeter der Erdoberfläche zur Verfügung stehen.
Damit wird ein Traum wahr. Ihr Kühlschrank kann Sie zukünftig per Handy darüber informieren, dass Sie noch Gurken im Gemüsefach haben, die Sie jetzt wieder essen dürfen.
Kommunikation beschränkt sich zukünftig nicht mehr auf die Welt der Menschen. Maschinen werden mit Maschinen kommunizieren, aber auch Maschinen mit Menschen.

Spielregel Nr. 1:
Schließe dich an, sonst wirst du ausgeschlossen.

Integrated steht für die Wertschöpfung
Die Medien verlieren ihren bisherigen Charakter und erhalten eine neue Bedeutung. Das Internet als Infrastruktur des 21. Jahrhunderts verbindet Kommunikation, Vertrieb und Produktion.
Denken Sie an Turnschuhe. Auf der Hompage von Nike-ID können Sie schon heute Ihren Sneaker online konfigurieren. Anschließend können Sie Ihr Design auf Facebook testen und nach Zustimmung Ihrer FreundInnen bestellen. Erst wenn Sie gezahlt haben, wird der Schuh gemäß Ihren Daten produziert. 14 Tage später erhalten Sie Ihren individuellen Turnschuh per Kurier. Die Rückgabe ist ausgeschlossen, denn Sie haben die Produktion selbst zu verantworten.

Spielregel Nr. 2:
Verbünde dich mit denen, die deine Ideale teilen.

Global steht für den Wertewandel
Die Medienanbieter und Mediennutzer treffen sich auf Augenhöhe im Web 2.0.

Es war der Nachbar von Bin Laden, der eine amerikanische Militäroperation bemerkte und sie live twitterte – ohne zu wissen, was er beobachtete. Es war ein Mitarbeiter des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Rumsfeld, der das Gerücht über das Ende des meistgesuchten Terrorchefs der Welt als Erster über Twitter verbreitete.

Es war der mächtigste Mann der Welt, der die Informationshoheit über seine militärische Operation verlor. Der amerikanische Präsident Obama konnte die Nachricht vom Tode des amerikanischen Staatsfeindes Nummer eins nur noch offiziell bestätigen.

Unter Internetbedingungen verschiebt sich die Macht von denen, die Geheimnisse haben, zu denen, die Öffentlichkeit herstellen. So der Medientheoretiker Jeff Jarvis.

Spielregel Nr. 3:
Nimm den Einzelnen ernst, und das weltweit.

Für die Zukunft habe ich Ihnen zwei Thesen mitgebracht.

Die erste Überlegung ist, dass es leichter war, das Web 2.0 technologisch einzuführen, als die organisatorischen Konsequenzen zu managen.

Zwar sind Social Media auch im achten Jahr nach der Freischaltung vom Web 2.0 noch nicht in den deutschen Unternehmen angekommen.

Die Dialogfähigkeit der sozialen Netzwerke wird nur von
- der Hälfte der Presseabteilungen,
- einem Viertel der Marketingabteilungen und
- einem Prozent der Vertriebsabteilungen genutzt.

Doch die wirkliche Herausforderung wird sein, dass sich die Mitarbeiter privat schneller an die neuen Kommunikationsmöglichkeiten mobiler digitaler Netzwerke gewöhnen als die meisten Unternehmen:
- Mitarbeiter, die nach 1980 geboren wurden, setzen internetfähige Arbeitsplätze voraus,
- aber nur ein Drittel der Arbeitsplätze entspricht dem aktuellen Stand der Technik.
- Die Hälfte dieser jungen Mitarbeiter nutzt soziale Netzwerke.

Die Folgen sind absehbar – die privaten Smartphones und Tabletcomputer wandern unbemerkt in den Hosen- und Handtaschen in die Betriebe, und ihre private Nutzung organisiert stillschweigend die Kommunikationskultur der Unternehmen um:

- 66 Prozent der unter 30-Jährigen akzeptieren schon heute nicht mehr die Sicherheitsrichtlinien der eigenen IT-Abteilung.

Don Tapscott stellte daraufhin fest:
„Das Unternehmen ist nackt. Wer keine Kleider hat, sollte wenigstens gut in Form sein.“

Unternehmen, die aus Angst, das Firmengeheimnisse verraten werden könnten, die Mitnahme von privaten Smartphones an den Arbeitsplatz verbieten wollen, müssen sich klarmachen, dass sie damit ihren Mitarbeitern offiziell das Misstrauen aussprechen.

Wie sollen aber Mitarbeiter die Interessen eines Unternehmens vertreten, wenn man ihnen nicht traut?
Vertrauen kann ein Unternehmen nicht anordnen oder kaufen. Vertrauen bekommt man geschenkt, solange man gemeinsame Interessen hat.

Die strategische Kommunikation muss sich auf neugierige Mitarbeiter und skeptische Unternehmen einstellen.

Ich möchte Ihnen von einer Erfahrung berichten, die ich letzte Woche bei einem global agierenden Mischkonzern machen durfte. Der Konzern hatte gerade eine neue Unternehmensstrategie beschlossen. Die Werte Nachhaltigkeit, Exzellenz und Wachstum werden in Zukunft die Identität des Unternehmens bestimmen.

Zur Vorbereitung des strategischen Kommunikationsworkshops mit den Topmanagern der deutschen Ländergesellschaften unterhielt ich mich mit einem jungen Mitarbeiter, der die Veranstaltung medientechnisch begleiten sollte.

Er kam wie ich aus Hamburg, und wir sprachen privat über ein katastrophales Gewitter, das am Vorabend die Millionenstadt lahmgelegt hatte. Ich hatte keine Nachrichten gehört und wusste nicht, was passiert war.

Daraufhin öffnete er seine private Facebook-Seite und zeigte mir Videos, die ihm Freunde gepostet hatten. Ich sah Filme von überschwemmten Straßen aus verschiedenen Stadtteilen Hamburgs und war betroffen.

Anschließend begann der Workshop.

- Es wurde über die neue Identität des Konzerns beraten. Das Problem war, dass jede Sparte ein Image für sich erarbeitet hatte, es aber kein klares Bild für den Gesamtkonzern gab.

- Man diskutierte über die Beziehungen untereinander. Bisher war man vertikal strukturiert. Man kannte sich im eigenen Silo über globale Netzwerke besser aus als in den anderen Konzernsparten der eigenen Ländergesellschaft. Das sollte sich ändern. Zukünftig wollte man sich horizontal über alle Sparten nach Ländern vernetzen. Es galt, eine gemeinsame Konzernidentität zu entwickeln und zu leben.

Schauen wir einmal genauer auf die Kommunikationsstrukturen:

Der oben genannte Mitarbeiter

- nutzte während der Arbeitszeit seine Social-Media-Homepage auf dem Firmencomputer, um mich privat über ein öffentliches Ereignis zu informieren.
- Er ging auf seine persönliche Facebook-Seite und nicht zu einem öffentlichen Online-Angebot einer Nachrichtenagentur oder eines Medienhauses.
- Er zeigt mir private Videos von Freunden, die sich gegenseitig mit ihren Informationen und Filmen auf dem Laufenden gehalten haben.

Das Unternehmen:

- beschäftigt 700 Kommunikationsmitarbeiter allein in Deutschland. Sie kommunizieren in einer fachspezifischen Medienöffentlichkeit und sprechen mit professionellen Journalisten der traditionellen Massenmedien.
- Web-2.0-Technologien, mit denen sich die Mitarbeiter untereinander austauschen können, gab es im Unternehmen noch nicht.
- Smartphones und Tabletcomputer waren für das Topmanagement selbstverständlich. Für die anderen Mitarbeiter war das mobile Internet mehr Statussymbol als Arbeitsinstrument.

Was wird sich für die Kommunikationsarbeit ändern?

Die Industriekultur setzte auf Arbeitsteilung: Die Presseabteilung sprach mit den Journalisten, das Marketing redete auf die Konsumenten ein, der Vertrieb sprach mit den Händlern, die Finanzabteilung mit den Analysten, die Personalabteilung mit den Mitarbeitern, dem Betriebsrat und den Gewerkschaften. Die Vorstände mit ihren Abteilungen. Der Vorstandsvorsitzende mit seiner Frau.

Die Netzwerkökonomie setzt auf Zusammenarbeit:

- Unter Internetbedingungen kann sich jeder mit jedem austauschen.

- Business-to-Business und Business-to-Consumer
wird zusehends eine Kommunikation unter Gleichen:
Peer-to-Peer

- Die bisher getrennten Sphären der internen und externen Kommunikation vernetzen sich.

Man muss sich nur an die lustvolle Weihnachtsfeier eines Versicherungsunternehmens erinnern. Ein internes Verhalten führt zum totalen Imageschaden für eine ganze Branche.

Fazit: Unter Internetbedingungen wird die strategische Kommunikation zum Coach. Sie wird die digitale Grundausbildung der Mitarbeiter organisieren.

Die zweite Überlegung ist, dass Social Media erst der Anfang sind und Schwarmintelligenz zur ökonomischen Revolution führt.

Schwarmintelligenz hat nichts mit Bildung, sondern mit der Bedeutung von Daten zu tun. Sie ist das Ergebnis gemeinsamer Interessen im Internet. Menschen können sich im Netz spontan verbünden und so die Welt verändern.

Schwarmintelligenz hat einfache Regeln:

- Voraussetzung ist der freie Zugang zum Internet.

Jeder entscheidet für sich

- Jeder kann individuell veröffentlichen.
- Alles wird global verbreitet.

Dissens statt Konsens

- Es gibt keinen Gruppenzwang.
- Die eigene Meinung zählt.

Dialog statt Macht

- Es geht nicht um Information, sondern um Kommunikation.
- Es geht um Überzeugungsarbeit und um spontane Mehrheiten.
- Es geht darum, diese wechselnden Mehrheiten zu beobachten und mit ihnen im Gespräch zu bleiben.

Schwärme unterscheiden sich vom Rudel, denn es gibt keinen Führer. Schwärme unterscheiden sich auch von einer Herde, denn es gibt keinen Leithammel, dem man folgen muss.

Schwarmintelligenz ist strategisch zentral, aber taktisch dezentral.

Denken Sie an das Web 1.0: an Google.

- Google organisiert die Relevanz von Informationen zentral, aber die Suchanfragen werden dezentral entschieden.

- Alle können das Ranking der Einträge sehen, das ist zentral, aber welche Informationen man individuell nutzt, ist dezentral.

Schwarmintelligenz wird zum Organisationsprinzip des 21. Jahrhunderts.

Denken Sie allein an Web 2.0 und die 700 Millionen Menschen, die als Mitglieder von Facebook medial aktiv sind.

- Programme berechnen soziale Nähe und verknüpfen Individuen zu Gemeinschaften auf Zeit.
- Jeder kann auf Facebook seine privaten Informationen veröffentlichen und wer seine Freunde sind, das ist dezentral.
- Facebook schlägt neue Freunde vor, das ist zentral.

Freunde informieren Freunde, auch wenn sie sich untereinander nicht kennen. Es zählt das gemeinsame Interesse. Es gibt keinen Masterplan.

Wer im Web 2.0 Zeiten und Orte bekannt gibt, kann in der realen Welt Menschen mobilisieren.

Das gilt nicht nur für politische Aktionen.

Sie erinnern sicher noch die überwältigende Geburtstagseinladung von Thessa aus Hamburg. Sie lud auf Facebook ihre persönlichen Freunde zum 17. Geburtstag ein.
Leider vergaß sie ein Häkchen zu machen, damit ihre Einladung mit Datum und Anschrift privat auf Facebook gepostet wurde. Bedauerlicherweise wurde so ihre Einladung zur Geburtstagsfeier öffentlich.
Daraufhin meldeten sich 15.000 Facebook-Freunde auf ihrer Seite an. Obwohl sie ihren Irrtum bemerkte und ihre Facebook-Seite schloss, feierten immerhin noch 1.500 Unbekannte eine Straßenparty vor ihrem Haus – zum Schrecken der Eltern und Nachbarn.

Max Gamper aber, ein 23-jähriger Fan von Thessa, komponierte ein Geburtstagslied und stürzte Matthias Reim vom ersten Platz der iTunes-Schlager-Chartliste.

Diese spontanen Mehrheiten nennt man Smart Mobs.

- Sie nutzen die Schwarmintelligenz als Organisationsform.

- Sie bilden sich ohne Mitgliedschaften und Institutionen.

- Sie agieren schnell, in großer Zahl, sind machtvoll und nicht zu kontrollieren.

Die Guttenberg-Affäre, Stuttgart 21, der Erfolg von Lady Gaga, die Arabische Revolution oder die Geburtstagsfeier von Thessa lassen sich auf das Phänomen Smart Mobs zurückführen.

Schwarmintelligenz ist als Organisationsprinzip neutral.

Es kann wie ein Messer zum Guten oder Bösen eingesetzt werden. Terrornetzwerke haben die Kraft der Schwarmintelligenz genauso erkannt wie Unternehmen, Konsumenten und Bürger.

Denken Sie an das Gute: an Wikipedia.
Die größte Online-Enzyklopädie ist ein Content-Management-System, das wie ein leeres Buch von ganz unterschiedlichen Menschen mit Wissen gefüllt wird. Zum gemeinschaftlichen Arbeiten an Texten haben sich weltweit 1.016.000 Mitarbeiter angemeldet, um in 260 Sprachen publizieren zu können.

Oder denken Sie an das Böse: an den Cyber War.
Das ist die dunkle Seite der Schwarmintelligenz. Hier geht es um das widerrechtliche Ausspähen privater Daten oder um die Zerstörung von Industrieanlagen, wie es der Computerwurm Stuxnet vorgemacht hat.

Intelligente Unternehmen werden zukünftig Schwarmintelligenz nutzen

Viele Unternehmen klagen über eine steigende Datenflut, ohne darüber nachzudenken, wie sie aus Informationen Wissen generieren können:

- wissen, was passiert und
- warum es passiert.

Insights in Echtzeit zu haben, um auf Basis von Informationen entscheiden zu können, wird eine wesentliche Voraussetzung für Erfolg.

Es ist eigentlich ganz einfach:
Wer sich mitteilen will, zuhören kann und bereit ist zu antworten, hat schon gewonnen.

Wer Daten produzieren, sammeln und analysieren kann, wird durch Schwarmintelligenz gewinnen.

Unternehmen und Institutionen tun sich aber noch schwer damit. Sie haben zwar gelernt, sich mitzuteilen, aber im Zuhören oder gar Antworten sind sie noch recht ungeübt.

Dabei schafft Schwarmintelligenz die Voraussetzung für intelligente Unternehmen und Organisationen, flexibel und dynamisch auf den globalen Märkten operieren zu können.

Das Management braucht sich nicht mehr auf Erfahrungen und Intuitionen zu verlassen, sondern kann auf Basis von datengestützter Echtzeitorientierung und Prognosen handeln.

Fassen wir das alles einmal zusammen, dann kommen wir zum Ergebnis, dass Kommunikation in der Netzwerkökonomie zur entscheidenden Ressource wird.

Voraussetzung wird sein, dass alle Beteiligten wissen, was sie tun und wie sie es tun.

Das ist nicht selbstverständlich.

Nach einer Untersuchung von Gallup unter 23.000 Topmanagern weltweit ergibt sich folgendes Bild:

37 % der Manager wussten, was das Ziel ihres Unternehmens ist;
15 % meinten, dass in ihrem Unternehmen Vertrauen herrscht; nur
13 % hatten das Gefühl, dass es sich beim Unternehmen um kooperative Arbeitsverhältnisse dreht.

Lassen Sie uns das in den Teamsport Fußball übersetzen:

- 4 von 11 Spielern wissen, wo das fremde Tor steht;
- 7 Spieler sind geneigt, das eigene Tor als Hauptziel anzusehen;
- 2 von 11 Spielern finden das Problem überhaupt interessant;
- nur 2 Spieler würden nicht gegen die eigenen Leute spielen;
- alle anderen sagen: Hauptsache, das Spiel läuft!

Es gibt viel zu tun – nicht nur für Fleishman-Hillard!

Aber erst einmal gilt es, die ersten 20 Jahre von Fleishman-Hillard Germany gebührend zu feiern!

Peter Wippermann

Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität der Künste, Essen, und Gründer des Trendbüros

 

 

 

Übergewicht und Magersucht

Die Entstrukturierung der Gesellschaft schreitet weiter voran.

Die Individualisierung hat die Familie erreicht. So ist Regensburg im Jahre 2011 Europas Singlehauptstadt geworden. Mit 55,4 Prozent gemeldeter Einfamilien-Haushalte lag die Universitätsstadt 2011 zum ersten Mal vor Berlin mit 52,4 Prozent Singles. Gleichzeitig wird die Arbeitswelt dynamischer und flexibler. Das Durchschnittsalter für CEO’s in Deutschland ist zwischen 2003 und 2010 um sechs Jahre gefallen. Die Vertragsdauer hat sich in der Regel von fünf auf drei Jahre verkürzt. Schneller, effizienter, globaler und virtueller sollen die Ergebnisse für die Finanzmärkte geliefert werden. Das übt einen Druck auf die gesamte Arbeitswelt aus.

Darüber hinaus fördern Smartphones und Tabletcomputer die Verschmelzung von Arbeitszeit und Freizeit. Schon 2014 wird es weltweit mehr mobile als verortete Computer geben. Die berufliche und private Welt vernetzen sich auf einem Interface und werden allgegenwärtig. Die permanente Fernanwesenheit in der Arbeitswelt fordert die persönliche Entscheidungskraft. Sich Zeit für das Essen zu nehmen wird zur bewussten Entscheidung. Die Eigenzeit zu strukturieren wird für viele zur Herausforderung. Als Zeitressource wird die Nahrungsaufnahme erkannt. So verschwindet die Tradition der geregelten Mahlzeiten zunehmend aus dem Alltag. „To go“ war erst der Anfang.

Es ist kein Geheimnis, dass sich Menschen nach Dingen sehnen, die gegenwärtig nicht präsent sind. Beobachten wir die fortschreitende Entstrukturierung, so kann die Antwort darauf nur aus zunehmenden Ordnungsangeboten bestehen. Alles was verschwindet steigt im Wert und wird deshalb zum erstrebenswerten Ziel. Die mediale Reizüberflutung schürt einen Wunsch nach Entschleunigung und Verortung. Die Versuche einer Re-Strukturierung des Ernährungsverhaltens ist gut zu erkennen: bewusstes Essen, nachhaltige und schadstofffreie Lebensmittel. Begriffe wie „Bio“, „Region“, „Slow“ und „Handgemacht“ steigen schnell in der öffentlichen und privaten Popularität.

Je weiter sich die Gesellschaft entstrukturiert, desto intensiver wird die Suche nach Orientierung. Der Körper wird mehr und mehr zum Sinnstifter und für viele zum Mittelpunkt der eigenen Welt, so der Medientheoretiker Norbert Bolz. Damit wird die Optimierung des eigenen Körpers zur selbst gestellten Designaufgabe. Eine bewusste Ernährung konstruiert logische und sinnlich erfahrbare Ordnung.

Das Phänomen der Entstrukturierung polarisiert das Essverhalten allerdings ungemein. Diejenigen, die es nicht schaffen, sich und ihre Umgebung neu zu ordnen, geraten in einen Zustand sehnsuchtsvoller Orientierungslosigkeit. Ein Kontrollverlust über das eigene Essverhalten ist die Folge. Nahrungsaufnahme wird zur Sucht. Der grenzenlos gewordene Körper macht einsam. Ein sozialer Abstieg folgt. Die endlose Schraube des Frustes führt zu Übergewichtigkeit oder Magersucht.

Prof. Peter Wippermann

„Früher zählte Ästhetik. Heute entscheiden Werte.“

Heute steht der Initiator und Projektleiter des Trendbüro Werte-Index
Prof. Peter Wippermann Rede und Antwort:
Wie bleibt man als Unternehmen flexibel, ohne sich zu verbiegen?
Was ist Trust Design? Und warum macht Apple dieses Mal nur fast alles richtig?

Herr Wippermann, von Ihnen stammt die Idee für den Trendbüro Werte-Index. Warum erfährt das Thema „Werte“ gerade heute ein solche Brisanz?

Flexibilität und Dynamik sind in der Netzwerkökonomie alltäglich geworden. Lineare Prozesse lassen sich nicht mehr planen. Man kann sich auf nichts Festes mehr berufen. Ein dynamisches, sich ständig veränderndes Umfeld erfordert die Fähigkeit, flexibel reagieren zu können. Im Gegenzug braucht man eine definierte Haltung, welche sich aus den eigenen Werten generiert und diese offen nach außen kommuniziert. Sich durch Flexibilität nicht deformieren zu lassen, sondern die eigene Gestalt immer wieder zurück zu erlangen - das ist die Aufgabe.

Werte sind darüber hinaus das Filtersystem in unserem hochkomplexen dynamischen Alltag. In unübersichtlichen Situationen, also sagen wir im Weißwasser, wo es schäumt und gischt, sucht man nach einem Boot oder einem Felsen. In dieser Situation ist es entscheidend, dass die Erwartungen daran nicht enttäuscht werden. Auf Unternehmen umgemünzt, bedeutet es, zunächst Vertrauen zu wecken, und dann dieses geschenkte Vertrauen zu gestalten und profitabler zu machen. Die große Kunst besteht demnach darin, aus einem Fels in der Brandung einen Diamanten zu machen.

Werte und Vertrauen sind also gleichzusetzen?

Werte sind die Grundlage für Vertrauen. Ich vertraue eher jemandem, der ähnliche oder dieselben Werte vertritt, als anderen mit abweichenden Werten. Für Unternehmen geht es heute vor allem um die Entwicklung und Gestaltung von Vertrauen. Wie organisiert man Vertrauen? Wie designt man Vertrauen? Sowohl für Mitarbeiter als logischerweise auch für seine Kunden. Das ist die Arbeit mit Werten. Es geht darum, die eigenen Werte mit denen der Kunden zu verbinden. Die Idee, warum das Unternehmen überhaupt existiert, verbindet sich mit Ideen und Wünschen von Konsumenten. Wenn ein Faden sich mit einem anderen verknotet, verschwindet keiner davon – aber es entsteht eine neue Festigkeit, die aus einem gemeinsamen Wollen besteht. Das ist etwas anderes als eine Social-Responsibility-Kampagne. Dafür reicht keine Abteilung. Das betrifft die ganze Firma.

Warum ist die Frage nach Vertrauen für Unternehmen gerade jetzt so wichtig?

Die Orientierung am Shareholder Value hat zu Steigerungslogiken in Drei-Monats-Fristen geführt. Viele Unternehmen haben ihre langfristige Ausrichtung völlig verloren. Gewinne wurden teilweise zu Lasten der Konsumenten erzielt. Durch die Netzwerkmedien kam es zu einer Machtverschiebung zu Gunsten der Konsumenten. Das Unternehmen wird nackt, und dann sollte es eine gute Figur haben – wie Tapscott es formuliert hat. Diese Transparenz zwingt Unternehmen, sich vom Angebot von Waren und Dienstleistungen zu lösen. Sie sind gezwungen, ein Angebot auf einer Werte-Ebene zu entwickeln. Denn ein Mensch hat mehr Facetten als ein Konsument. Menschen wollen ihr Leben gestalten und nicht als Verbraucher bloß Teilaspekte möglichst schnell befriedigen.

Die Netzwerkmedien haben zudem die Facetten des Menschen erweitert. Arbeit und Freizeit verbinden sich auf dem Interface eines Personal Media Angebots. Die Trennung zwischen Mensch, Arbeitnehmer und Konsument löst sich auf. Der Endverbraucher ist Teil der Wertschöpfungskette geworden, was Toffler immer schon mit dem Begriff Prosumer definiert  hat. Wenn der Mensch Ausgangspunkt meiner Wertschöpfungsidee wird, muss ich seine Werte respektieren. Diese Ganzheitlichkeit betrifft auch die Unternehmen selbst. Damit verlieren Markenwerte an Bedeutung. Unternehmenswerte werden sehr viel interessanter und wichtiger. Wie agiert ein Unternehmen, mit wem arbeitet es zusammen, wie reagiert es auf Vorwürfe? Oder ähnliche Fragen.

Bedeutet das höhere Bedürfnis nach Vertrauen auch einen neuen Umgang damit?

Heute geht es um Trust Design – nicht mehr um Emotional Design. Ästhetik wird durch Werte ersetzt. Dieses Vertrauensdesign ist das Neue. In den letzten 20 Jahren musste es einfach geil aussehen, ästhetisch überzeugend sein und emotional ansprechen. Das spielt heute immer noch eine wichtige Rolle. Im Moment geht es Konsumenten allerdings immer mehr darum, Vertrauen zu den Unternehmen zu haben. Wenn man sich zum Beispiel die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Facebook und Google ansieht – Facebook hat beauftragt, Desinformationen über Google zu verbreiten, damit Google an Vertrauen verliert – dann sieht man, wie hart dieser Kampf um das Vertrauen im Moment geführt wird.

Warum tun sich Unternehmen so schwer damit?

Ich glaube, dass die meisten Unternehmen überhaupt keine Vorstellung davon haben, warum sie existieren, außer Profit zu machen. Und das reicht nicht aus. In Zukunft vernetzen sich die Branchen miteinander. Diejenigen, die nicht wissen, warum sie eigentlich existieren und welche Werte sie vertreten, werden am Markt verlieren. Im Moment lässt sich das gut an Apple und Sony beobachten.

Sony, ursprünglich in der Unterhaltungselektronik führend, fällt permanent zurück, weil nach außen hin nicht erkennbar ist, für welche Sache sie stehen. Sie sind völlig indifferent geworden. Apple hat es geschafft, die eigene Identität zu behalten. Ob sie die Musikbranche, die Telekombranche oder die Unterhaltungselektronikbranche angegriffen haben – es war immer eindeutig Apple. Apple fuhr und fährt einen definierten Kurs, der klar und deutlich lesbar und zu erkennen ist. Diese klare Linie äußert sich nach außen durch den Slogan „Think Different“. Bei Apple akzeptiert man die konventionellen Branchen-Spielregeln nicht, sondern überlegt: „Was wollen wir eigentlich und wie können wir dieses Ziel möglichst anders erreichen?“ Das ist ein ganz einfacher, aber sehr, sehr klarer Werteansatz, der ihr Handeln bestimmt – unabhängig davon, welche Produktionskategorien sie gerade angehen. Man kann sich beispielsweise gut vorstellen, dass Apple in Zukunft auch E-Mobility anbieten könnte.

Apple macht also wieder einmal alles richtig?

Apple hat perfekt verstanden, Emotional Design zu machen. Und sehr, sehr langsam sind sie dabei, Trust Design zu machen. Sowohl was die Arbeitsverhältnisse wie auch Umweltbelastungen angeht, hat Apple nachgezogen. Das Unternehmen ist jedoch in die nächste „Wertefalle“ getreten, als es darum ging, wie man mit Speicherung und Nutzung von privaten Daten umgeht.

Alle Unternehmen sind gezwungen, solche Dinge zu erklären, die technisch nicht nur möglich, sondern notwendig sind. Aber welche Haltung entwickeln wir dazu? Wir haben Kenntnisse von Menschen, die sie uns anvertrauen, ohne es zu wissen. Warum sagen wir nicht, dass wir diese Daten brauchen und dass wir diese Daten ernst nehmen und schätzen? Facebook hat im Moment ein Geschäftsmodell, dessen Grundlage private Daten sind. Sie gehen damit nicht nur nachlässig, sondern bewusst täuschend um. Die Frage ist, wann sich das dem Unternehmen gegenüber rächt.

Dass der Mensch mehr Facetten hat als ein Konsument, lässt sich auch auf die Facette des Mitarbeiters ummünzen. Inwiefern ist die Vertrauensfrage auch gegenüber den Mitarbeitern relevant?

Die Autonomie der Mitarbeiter ist stark gewachsen. Daher werden gelebte Unternehmenswerte auch intern als gemeinsamer Handlungsrahmen immer wichtiger. Durch die Auflösung der Arbeitsteiligkeit und die hohe Selbständigkeit im Arbeitsprozess muss ein Quellcode vorgegeben sein, der dem einzelnen Mitarbeiter ermöglicht, spontan und flexibel selber zu entscheiden, aber innerhalb einer Konstante, der dem Sinn und Wohl der Firma entspricht.

Wer seinen Mitarbeitern signalisiert, ihnen nicht zu vertrauen – indem z. B. der Zugang zum Internet beschränkt wird –, muss davon ausgehen, dass auch die Mitarbeiter dem Unternehmen nicht vertrauen und so nicht selbständig arbeiten können. 66% der Mitarbeiter, die nach 1980 geboren sind, ignorieren die IT-Sicherheitsrichtlinien ihrer Unternehmen. Insofern sind Vertrauen und das Gestalten von Vertrauen über gemeinsam geteilte Werte ganz zentral.

Was wäre ein erster Schritt für Unternehmen in Werte-Logiken zu denken?

Werte sind ja nichts anderes als die Beschreibung von Haltungs- und Handlungsideen. Sie sind ein Algorithmus von Denkabfolgen, die aber immer wieder neu interpretiert werden. Sehen wir uns als Beispiel den Wert Freiheit an. Viele Unternehmen behaupten, die persönliche Freiheit ihrer Kunden zu vergrößern. Das kann über Technologien oder anders geschehen. Der Wert Freiheit war früher mit Aufbruch und dem Zuwenden anderer geografischer Regionen oder Kulturen verbunden. Im Moment – das war auch das Ergebnis des Werte-Index 2009 – wird der Zugang zu virtuellen Welten damit verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Freiheit in Zukunft bedeutet, sich aufgehoben zu fühlen und in sozialen Dimensionen gedacht wird, ist nicht ganz utopisch.

Für Unternehmen gilt es daher, für eine bestimmte Sache zu stehen, aber die Begrifflichkeiten immer wieder neu zu interpretieren. Um mit den Kunden in Verbindung zu bleiben, gilt es, herauszufinden, was sie unter bestimmten Wertebegriffen verstehen. Dann bilden Werte eine Konstante, die es erst ermöglicht, Flexibilität zu leben, ohne sich zu verbiegen.