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Consumer Centricity

Consumer Centricity benennt den Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt, hin zum Marktplatz der individuellen Kunden. Während die einen noch über die Frage diskutieren, inwieweit Mehrkanal-Lösungen für das eigene Unternehmen relevant sind, stellen andere sich grundlegend neu auf und ändern die Konzernstrategie.

Multichannel auf allen Kanälen

In der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft des Handels dominiert der Begriff „Multichannel“ das strategische Handeln der Unternehmen in Marketing und Vertrieb. Die Konsumenten sollen auf verschiedenen Wegen erreicht, die Produkte über unterschiedliche Kanäle abgesetzt werden. In der Multichannel-Diskussion ist das „entweder oder“ längst einem „sowohl als auch“ gewichen. Sowohl stationäre Geschäfte als auch E-Growth-Strategie. Sowohl Print-Katalog als auch App. Sowohl klassische Webseite als auch mobile.

Betrachtet man dieses „sowohl als auch“ genauer, kommt man schnell zu dem Schluss, dass der Begriff „Multichannel“ zur Beschreibung dieses Wandels an seine Grenzen stößt. Nicht nur stehen Multichannel-Strategien grundsätzlich in der Kritik. Jüngst sorgte wieder eine Studie für Aufsehen, die zu dem Ergebnis kam, dass Multichannel am Kunden vorbei gehe, weil dieser häufig mit dem Bestellkanal auch den Anbieter wechsele. Endverbraucher honorierten die Exzellenz einzelner Vertriebswege stärker als die Integration (Quelle SMP und innofact, http://www.internetworld.de/Nachrichten/E-Commerce/Zahlen-Studien/Studie-Kunden-interessieren-vernetzte-Angebote-im-Handel-kaum-Kanal-Exzellenz-wichtiger-als-Kanal-Integration-66506.html). Jochen Krisch, Betreiber des Blogs excitingcommerce.com schreibt hierzu: „Wer wachsen will, macht Pure Play, wer nicht verlieren will, Multi-Channel" (Quelle: http://www.channelpartner.de/handel/ecommerce/2585472/index3.html). Für ihn sind Multi-Channel-Strategien Defensivstrategien, mit deren Hilfe der stationär ausgerichtete Handel sein bestehendes Geschäft verteidigen will und versucht ein Stückchen des wachsenden Online-Kuchens zu bekommen.

Konsument statt Vertriebskanal

Das Ziel aller Kommunikationswege und Kanäle ist letztendlich der Konsument. Der Weg, wie man ihn erreicht, ist egal. „Multichannel“-Ansätze denken aber oftmals noch vom Produkt oder der Botschaft aus und haben den Konsumenten zum Ziel. Es ist aber der Konsument, der im Mittelpunkt steht und entscheidet, welche Botschaften er durch seinen Relevanzfilter lässt. Der Multichannel-Ansatz beschreibt ein Denken hin zum Konsumenten – und nicht ein Denken aus Sicht des Konsumenten. Insofern wäre es sinnvoller, den Begriff „Multichannel“ durch „Consumer Centricity“ zu ersetzen. Im Ergebnis mögen sich beide Ansätze möglicherweise kaum unterscheiden, aber Denkansatz, Philosophie und die Rolle der Konsumenten unterscheiden sich grundlegend. Eine konsumentenzentrierte Perspektive betont die Vernetzung und nicht „nur“ das Bespielen multipler Kanäle. Sie betont die Kundenbeziehung und nicht das Produkt. Sie betont eine Werthaltung und nicht eine Wachstumsstrategie. Sie betont die Konvergenz und nicht die Trennung von Marketing und Vertrieb. Sie betont Zuhören und Dialog und nicht das monologische Aussenden von Botschaften.

Agiler Handel durch Vernetzung

Online und offline verschmelzen. Was im privaten Leben und im Konsumentenverhalten schon länger zu beobachten ist, beschäftigt auch den Handel. Immer mehr Anbieter setzen auf Multichannel-Strategien. Retailer werden E-Tailer, stationäre Pure Player erarbeiten sich Online-Kompetenz und gehen ins Netz. Gleichzeitig werden E-Tailer auch Retailer, Internet Pure Player bauen das stationäre Geschäft auf oder aus, wie beispielsweise der Elektronik-Versender Cyberport oder jüngst auch Amazon, das in Seattle eigene Filialgeschäfte testet (Quelle: http://buchreport.de/nachrichten/handel/handel_nachricht/datum/2012/02/07/amazon-plant-buchhandelskette.htm). Im Laden Zugriff auf den Online-Shop haben, oder im Netz bestellen und im Laden abholen (Quelle: http://www.absatzwirtschaft.de/content/crm-vertrieb/news/kunde-hat-im-geschaeft-zugang-zum-onlineshop;77173): Die Konvergenz verschiedener Kanäle verbindet Verlässlichkeit, Sicherheit und Bequemlichkeit.

Social Commerce

Ein kanalübergreifendes Angebot der Händler allein garantiert noch keinen Erfolg. Vernetzung, Dialog und Interaktion sind zentrale Kriterien in der Netzwerkökonomie. Nach dem Erfolg der privaten sozialen Netzwerke ist der Social Commerce nur eine logische Folge. Der Bekleidungshersteller Levis bietet beispielsweise mit dem Levis Store die Möglichkeit, den Shop mit seinem Facebook-Profil zu verknüpfen, so dass Besucher nicht nur sehen können, wie viele „Likes“ ein bestimmtes Produkt hat, sondern auch, wer von seinen Facebook-Freunden welche Produkte präferiert. „Style Me“ von Cisco ist eine „virtuelle Umkleidekabine“, bei der die User in einem interaktiven Spiegel Kleidung virtuell anprobieren, Fotos davon an Freunde verschicken können und je nach Feedback dieses oder doch lieber jenes Kleid kaufen können (Quelle: http://blogs.cisco.de/2012/05/03/cisco-styleme-die-virtuelle-umkleidekabine/).

Durch das mobile Internet ergeben sich neue Formen der Vernetzung und des Handels. Schaufenster werden digitale Points of Sale. Empfehlungen von Freunden sind vertrauenswürdiger als Unternehmenskommunikation- und schneller. Das mobile Internet vernetzt uns jederzeit an jedem Ort. Bereits ab 2014 werden mehr Menschen über Smartphones und Tablets online gehen als über einen klassischen PC oder Laptop (Quelle: Gartner, vgl. auch http://www.e-commerce-magazin.de/ecm/news/mobiles-internet-als-schauplatz-innovativer-online-marketing-strategien). „Whatever you do, do mobile first“, lautete der Spruch des damaligen Google-CEOs Eric Schmidt. In einer durch das Internet geprägten Echtzeit-Gesellschaft streben immer mehr Menschen nach „Instant Gratification“ und wollen ihre (Kauf-) Entscheidungen auch unterwegs erledigen. Mobile Shopping ist keine Spielerei, sondern effektiver Zeitgewinn für die Menschen, die in Wartesituationen und Transiträumen nun ihre Einkäufe organisieren können. Im Jahre 2011 hat bereits jeder dritte Smartphone-Besitzer sein Gerät schon einmal zum Einkaufen benutzt. In diesem Zusammenhang wird auch mobiles Bezahlen an Bedeutung gewinnen. Experten gehen davon aus, dass alleine in 2012 „mobile payment-Systeme“ um mehr als 60 Prozent zunehmen werden (Quelle Gartner, http://www.zdnet.de/news/41562528/gartner-markt-fuer-mobile-payment-waechst-2012-um-62-prozent.htm)

Auch die Photo-Sharing-Plattform Pinterest – immerhin das am schnellsten wachsende und derzeit drittgrößte soziale Netzwerk weltweit – ist ein Wachstumsmotor für den Handel. Studien zeigen, dass Bilder auf Pinterest, die mit Preisangabe und Link zum entsprechenden Online-Shop hinterlegt sind, für eine Steigerung des Online-Umsatzes der jeweiligen Unternehmen beitragen (Quelle: http://www.shopify.com/blog/6058268-how-pinterest-drives-ecommerce-sales). Aber was ist Pinterest eigentlich für die Unternehmen? Vertriebskanal oder Werbeplattform? Welche Abteilung ist für so etwas zuständig? Marketing oder Vertrieb?

Konvergenz: Was ist Marketing? Was ist Vertrieb?

Die Möglichkeiten, die uns Netzwerktechnologien heute bieten, definieren die Grenzen des Handels und die Organisation von Unternehmen neu. In vielen Unternehmen wird noch die klassische Trennung zwischen Marketing und Vertrieb gelebt. Aber wer kann in Zeiten von Web 2.0 noch genau unterscheiden, welche Aktivität dem Marketing und welche dem Vertrieb zuzuordnen ist? Häufig nur diejenigen, die in den jeweiligen Abteilungen tätig sind. Faktisch aber verschwimmen diese Grenzen immer mehr. Spezialistentum und Silodenken verlieren ihre ökonomische Kraft in der Organisationsstruktur von Unternehmen. Klassisches Marketing denkt in Kommunikationsbudgets, das auf verschiedene Kanäle verteilt wird. Der Vertrieb organisiert lediglich den Abverkauf. Ähnlich wie das Beispiel Pinterest zeigt auch der Online-Fashion-Shop 7Trends, wie die Rollen von Unternehmensmarketing, Social Marketing und Vertrieb neu ausgehandelt werden. „Pay with a Tweet“ bietet den Konsumenten die Möglichkeit, einen Rabatt auf ihren aktuellen Warenkorb zu bekommen, wenn Sie einen Facebook-Post oder Tweet absetzen, in dem sie ihrer Community über ihre Einkäufe berichten: eine Sofortbelohnung für Empfehlungsmarketing.

Jeder Kanal hat andere Eigenschaften

Digitaler Vertrieb bedeutet nicht, die Prinzipien des stationären Handels in die Online-Welt zu übersetzen. Digitaler Vertrieb hat seine eigenen Gesetze. Multichannel verhält sich zu Consumer Centricity wie Crossmedia zu Transmedia. Bei crossmedialer Kommunikation wird eine Botschaft auf vielen verschiedenen Kanälen gespielt. Bei transmedialer Kommunikation hingegen gibt es auf jedem Kanal unterschiedliche Botschaften. Und die Botschaft passt sich dem Kanal an und nutzt die jeweiligen Anforderungen, Eigenschaften und Möglichkeiten des Kanals. So lässt sich den Menschen/ Nutzern eine ganzheitliche Erlebnisqualität bieten – statt nur dumpfer Wiederholungen. In der Verbindung fügen sich die „Kanalfragmente“ zu einem Gesamtbild zusammen.

Gleiches gilt für den Consumer-Centricity-Ansatz: Hier geht es nicht darum, Produkte oder Botschaften durch möglichst viele Kanäle zu jagen, sondern den Kunden – je nach Kanal – einen besonderen Mehrwert zu bieten, spezielle Services, die, miteinander verzahnt, ein besonderes Markenerleben ermöglichen. Beispiel: Anstatt den Online-Shop 1:1 in eine App umzusetzen, bietet der Sportartikelhändler SportScheck eine App mit visueller Suche. Wer im Bus die Schuhe seines Gegenübers schön findet, macht ein Foto davon, und die App sucht im Produktkatalog nach Übereinstimmungen und bietet ähnliche Produkte aus dem Sortiment an, die schnell an Freunde weitergeleitet und gekauft – werden können. Eine gelungene Integration von mobilem Service, Social Shopping und nächstem Schritt in Richtung M-Commerce.

Beziehung statt Produkte

Dank des Internets sind die Konsumenten in der Lage, einen Dialog mit den Unternehmen zu führen, Aber derzeit nutzt nur ein Bruchteil dieser Unternehmen diese Chance. 60 Prozent der führenden Markenhersteller in Deutschland noch keinen eigenen Online-Shop (Quelle: http://www.absatzwirtschaft.de/content/crm-vertrieb/news/markenhersteller-verzichten-auf-online-direktvertrieb-und-damit-auf-umsatz;76936). Der IT-Marktforscher Forrester prognostiziert einen Anstieg der E-Sales in Europa um 78 Prozent bis zum Jahre 2016 (Quelle: Forrester Research, vgl. auch http://trendwatching.com/de/trends/etailevolution/).

Unternehmen, die beispielsweise auf eigene Online-Shops verzichten und ihr Fulfilment über einen Player wie Amazon erledigen, erhöhen damit möglicherweise ihre Reichweite und ihre Abverkäufe, aber sie geben das Kundenbeziehungsmanagement aus der Hand. Amazon kann sein Profiling stärker ausbauen und erhält Zugriff auf die Daten des Nutzers. Im Gegenzug bekommen die Konsumenten persönliche Angebote, wann und wo immer sie wollen. Eine konsumentenzentrierte Denkweise orientiert sich dabei an effizienten technologischen Realitäten. Konsumenten sparen Zeit, Unternehmen lernen Kunden besser kennen und können durch automatisiertes Marketing ihre Kunden viel gezielter ansprechen. Unternehmen, die das Kundenbeziehungsmanagement outsourcen, verlieren die wertvollste Ressource der Netzwerkökonomie: Kundendaten.

Big Data 

Automatisiertes Marketing ist das Schlagwort der Stunde. Hal Varian, Chef-Ökonom bei Google, hat bereits im Jahre 2009 prognostiziert, dass der Berufsstand der Statistiker einen Image-Boost erleben wird: “The sexy job in the next ten years will be statisticians. People think I'm joking, but who would've guessed that computer engineers would've been the sexy job of the 1990s? The ability to take data - to be able to understand it, to process it, to extract value from it, to visualize it, to communicate it – is going to be a hugely important skill in the next decades, not only at the professional level but even at the educational level.“ (Quelle: Hal Varian, Google Chief Economist, The McKinsey Quarterly, January 2009).

Heutzutage können Computer aus Unmengen an Daten Verhaltenssimulationen erstellen, um das Marketing effizienter zu gestalten. Beispielsweise analysieren Versicherungen täglich Terrabytes an Daten, Computer filtern Inhalte über Geburt von Kindern, analysieren das Kommunikationsverhalten, suchen nach Mustern. So können versicherungsaffine Eltern gezielt angesprochen und auf besondere Versicherungen aufmerksam gemacht werden, die genau zu diesem Zeitpunkt in ihr Lebenskonzept passt. Angeblich führen mehr als 80 Prozent dieser persönlichen, auf Nutzerverhalten basierenden Angebote zum erfolgreichen Vertragsabschluss (Quelle: FAZ, 28.6.12, http://www.faz.net/aktuell/technik-motor/big-data-die-schnueffelnden-supercomputer-11798532.html).

Diversifizierung statt Homogenisierung. Werte statt Wachstum.

Consumer Centricity benennt den Wandel vom Verkäufer- zum Käufermarkt, hin zum Marktplatz der individuellen Kunden. Während die einen noch über die Frage diskutieren, inwieweit Mehrkanal-Lösungen für das eigene Unternehmen relevant sind, stellen andere sich grundlegend neu auf und ändern die Konzernstrategie.

Nike beispielsweise setzt künftig auf Personalisierungs- und Mass-Customization-Projekte und trägt damit der Entwicklung Rechnung, dass es zunehmend schwieriger wird, seine Zielgruppen zu definieren (Quelle: http://ecommerce.typepad.com/exciting_ecommerce/2007/02/the_customer_de.html). Eine solche Strategie setzt zwingend voraus, dass man sich mit seinen Kunden en detail beschäftigt – und sie nicht bloß als Zielgruppe wahrnimmt, die man mit man mit freundlichen Call-Center-Mitarbeitern zufriedenzustellen versucht.

Fast jedes Unternehmen würde von sich behaupten, es sein konsumentenzentriert. Tatsächlich sind die meisten aber nur konsumentenorientiert – und vielleicht noch kundenfreundlich. Aber Kundenfreundlichkeit ist etwas anderes als Consumer Centricity. Die Bezeichnung „Product Manager“ ist stellvertretend für die produktzentrierte Organisationsstruktur, die in vielen Unternehmen noch vorherrscht. Wer konsumentenzentristisch denkt, müsste die Product Manager zugunsten der „People Manager“ abschaffen. Ähnliches schlägt der Marketing-Professor Peter Fader vor (Universität Pennsylvania, Wharton Customer Analytics Initiative, http://www.wharton.upenn.edu/wcai/).

If you organize the company around different types of customers and have customer segment managers who are just as powerful as today's product managers are -- giving them the right incentives and the right resources and tools - that can actually be a more profitable way for many companies to go to market” (Quelle: Interview mit Peter Fader, Autor des Buches “Customer Centricity”, http://knowledge.wharton.upenn.edu/article.cfm?articleid=2875). Für Fader gibt es zwei zentrale Schritte hin zu Consumer Centricity: Zum einen geht es darum, Vielfalt nicht nur anzuerkennen, sondern zu zelebrieren. Die Individualität des Kunden ist entscheidend. Zum zweiten geht es darum, die individuellen Bedürfnisse zu bedienen: verschiedene Kunden wünschen verschiedene Produkte oder Services. Das bedeutet für viele Unternehmen, ihre Strategie und Unternehmensorganisation umzustellen. Wer seine Kunden nicht versteht, kann ihnen auch keine gezielten Mehrwert-Angebote machen, sondern muss darauf hoffen, dass ein Produkt oder ein Service „den Geschmack der Kunden“ treffe. Diese Schrotflintenlogik vergeudet Zeit und Geld.

Consumer Centricity setzt auf langfristige Kundenbeziehung statt auf kurzfristiges Wachstum.

Prof. Peter Wippermann

Gründer Trendbüro und Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität der Künste, Essen

Wem kann man noch vertrauen?

In einer sich stetig wandelnden Lebenswelt, in der alles möglich scheint, werden Unternehmenswerte zunehmend wichtiger als die Warenästhetik. Transparenz und Glaubwürdigkeit sind heute entscheidende Wettbewerbsfaktoren.

Ein Artikel von Prof. Peter Wippermann, erschienen in der Otto Group Times zum
Geschäftsbericht 2011/12
der Otto Group.

Die Otto Group Trendstudie Verbrauchervertrauen können Sie hier runterladen.